- Premio letterario Merano Europa – Tredicesima edizione 2019
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- Hugo Ramnek – Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa
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- Ivana Gini – Narrativa in italiano – Italienische Erzählprosa
- Fabrizio Tumolillo – Narrativa in italiano – Italienische Erzählprosa
- Maximilian Gasser – Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa 2019
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- Traduzione dall’italiano al tedesco 2019
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Premio Letterario Internazionale Merano-Europa – Tredicesima Edizione – 2019
Internationaler Literaturpreis Merano Europa 13. Ausgabe 2019
Narrativa in tedesco – Italienische Erzählprosa 2019
1. Preis
Hugo Ramnek
Die Schneekugel
Download PDF Hugo Ramnek Die Schneekugel
Auf dem Schreibtisch steht die Schneekugel. Ihm ist heiß. Im Vorhang verfängt sich die Sonne.
Unter der Kuppel liegt Schnee.
Überall eingefrorene Schneefährten. Alles still.
In die weißgestäubte Landschaft ist eine Figur gestem- pelt. Ein Menschenabdruck, hingebreitet, schwarz, ein Arm weggestreckt, der andere verschmolzen mit der dun- klen Fläche, weit auseinandergestreckte Beine, die Füße nach außen gedreht.
Kahle Bäumchen stehen am Wegrand, ein geknickter, laubloser Ast, Zweige am Weg.
Schwarze Schuhstapfen führen weg vom Körper, der fehlt.
Oben weit weg im Bergschnee ist eine viertatzige Spur, die geht hin und her.
Er schüttelt die Schneekugel.
Schnee fällt auf den Hauptplatz, die Pestsäule, die Kir- che, das Grenzlandheim, das Schloss, den Eisenpass, den Slowenenhügel, den Grenzberg. Aus dem Schatten des Grenzbergs kommen sie nachts und schleichen auf den Slowenenhügel und in das Städt- chen und hinterlassen keine Fußstapfen im Neuschnee.
Jemand kommt aus dem Haustor. Er zieht die erste Spur. Einer zieht immer die erste Spur. Er blickt zurück. Sein Weg verschwindet in der weißen Finsternis. Er geht in einem Durcheinander von unsichtbaren, weggeschmol- zenen Spuren. Im Schneenebel sieht er kaum seine eige- nen Atemwölkchen.
Der Schnee bedeckt ein Gewirr von Fährten, ein Di- ckicht von Spuren auf der Schonung, Schleifspuren, ge- knickte Äste, Blutstropfen.
Durch das Schneetreiben tönt matt ein Schleifen wie von Füßen.
Und auf dem Grenzberg sind Tatzenstapfen, die zie- hen von hüben nach drüben und verschwinden in einem Stolleneingang.
Er schüttelt die Schneekugel.
Schnee fällt auf das Städtchen. Schnee fällt auf den Slo- wenenhügel.
Der Garten ist frisch verschneit. Er reißt sich von der Hand seiner Mutter los. Er fällt weich. Sie hebt ihn auf. Er sieht seinen Abdruck im Schnee. Und lacht.
Vater öffnet das Ofentürchen, stopft Zeitungspapier und Kleinholz hinein und zündet sie an.
Die Eltern sind nicht aus der Gegend. Für das Städt- chen bleiben sie Zugereiste. Mutter kommt vom Eisen- pass. Sie erzählt: Im Schneetreiben war ein Schleifen, ein Schleifen von Füßen.
Er kann seinen Namen schreiben. Mit Fäustlingshän- den schreibt er die Lettern in das Weiß hinein.
Die Bürgerin stand neben der Pestsäule und hielt die Fackel hoch. Sie war und ist heimattreu. Ihre Wangen glühten in der Winterluft. Aus den Häusern hingen fla- che, rote Zungen. Sie hakte sich bei ihrer Nachbarin ein. Die Stimme vom Podest rief: Das ist eine kerndeutsche Stadt! Und sie war mittendrin. Die Heilrufe vom Haupt- platz waren bis zum Gupf des Slowenenhügels zu hören.
Am ersten Adventsonntag erzählt ihm sein Freund, dass es das Christkind nicht gibt.
Töten möchte er ihn dafür, töten.
Die Hangwiesen am Slowenenhügel waren windelweiß vom späten Schnee. Es war am Osterdienstag. Eine Stun- de hatten sie Zeit. Der Vater und sein Bruder waren zwar eingerückt für Deutschland, Deutschland über alles, aber am Hof sprachen sie die falsche Sprache. Drei Monate alt war das Jüngste, und die Bäuerin hatte alle Windeln ein- geweicht. Der volksfremde Säugling schrie die ganze lan- ge Fahrt ins deutsche Lager.
Sie stapfen nachts durch den fahlen Wald hinunter ins Städtchen. Die Bäume werfen schräge Schatten in den bleichblauen Schnee. Vater trägt den Christbaum. Die Kinder müssen lachen, weil die Eltern falsch singen. Die haben beim Bauern Schnaps getrunken. Der hat den Kin- dern erzählt: Bei der Wegscheide bin ich dem Leibhaftigen begegnet. Die Kinder wissen: Dort sind drei Wege im Schnee, einer ins Städtchen, einer über die Grenze, und der dritte, verwilderte – wohin? Die Weihnachtstannen
sind aus dem Wald am Slowenenhügel. Beim Schnaps hat sich der Bauer verraten: Die Bäume sind aus dem Grafen- forst, nicht aus seinem. Die Eltern lachen, der Bauer lacht und schenkt nach. Die Kinder schauen aus dem Fenster in den finsterweißen Wald und zerlachen ihre Angst vor den glühendroten Teufelsaugen.
Er kommt heim von der Volksschule. Er stapft seinen Namen in den Schnee. Hinter den Gardinen des Parterre- fensters sieht er den Nachbarn, schemenhaft. Da zerstapft er seinen Namen.
Im Grenzwald oben waren Schneemänner mit Geweh- ren. Sie flüsterten in der verbotenen Sprache und trugen neue Namen. Schnee stürzte auf sie von den Ästen.
Ohne Ende. Hinter sich her zogen sie Fichtenzweige. Unten am Hauptplatz war der Schnee festgetreten von den schwarzen Stiefeln der Banditenjäger.
Er rollt mit Mutter den Teppich im Garten aus. Die Schläge des Klopfers hallen durch das Städtchen. Mutter rollt den Teppich ein und Vater trägt ihn hinauf in die Wohnung. Zurück bleibt ein schwarzes Rechteck im Schnee.
Das weiche Holz knistert und feuert das harte Holz an. Solange es noch Flammen gibt, schließt Vater das Ofen- türchen nicht, sonst explodiert der Kachelofen.
Mutter erzählt: Und im Schneetreiben war, fast nicht hörbar, ein Schleifen, ein Schleifen von tausend Füßen.
Es dampfte von ihm wie von einem Fuhrmannspferd. Der Partisan musste immer öfter rasten. Der Schnee reichte ihm bis zum Hosenbund. Er watete nach Hause.
Wenn die Deutschen seine Fährte am Slowenenhügel auf- nähmen, würden sie ihn, den Deserteur, fangen wie einen Schneehasen. Sein Bruder hatte Fronturlaub. Er musste ihn sehen. Der Waldkämpfer und der Wehrmachtssoldat standen einander gegenüber in der elterlichen Stube. Der Herd zerschlagen, keine Scheiben, keine Möbel, keine Stimmen im Haus. Sein Bruder nannte ihn beim alten Na- men und sagte: Ein anderer Mensch der gleiche Mensch.
Die Buben versammeln sich vor dem Pfarrhof. Er hat sich zu nahe herangewagt. Beim Wegrennen ist er auf der Eisplatte ausgerutscht. Er sieht das wackelnde Zottelwe- sen vor sich und hört das aufgeregte Rasseln der Ketten und das dumpfhohle Nachbarslachen hinter der Kram- pusfratze.
Ihre Augen waren blau. Sie hatte lange blonde Zöpfe. Ihr Nachname war deutsch. Der Gestapobeamte kam aus dem Staunen nicht heraus: sie – eine wilde Slowenerin? Er hatte schwarze Haare, dunkle Augen und einen sloweni- schen Nachnamen. Für einen Moment sah er sich an ih- rem Platz sitzen. Dann zwang er seinen Blick hoch zu den kleinen Eiszapfen am Gitter. Vor dem Fenster fiel der Schnee lautlos und herinnen brummte eine Fleischfliege.
Und drinnen im Berg wartet der Grenzbär auf seine Zeit.
Er schüttelt die Schneekugel.
Schnee fällt auf das Kriegerdenkmal im Städtchen. Schnee fällt auf das Partisanendenkmal am Hügel.
Bei Leermond flüstern die Nachtschatten ihre Asche- namen in das stumme weiße Schütten.
Er ist der Einzige am Volksschulschitag, der mit offe- nem Anorak durch die Slalomtore fährt. Er erblickt seine Mutter am Pistenrand und fährt auf sie zu und in sie hinein.
Die alte Bäuerin vergisst so vieles. Alles geht durchein- ander. Aber jedes Mal, wenn sie an der aufgelassenen Schule vorbeikommt, erinnert sie sich an den Lastwagen. Er hielt vor der Schule am Slowenenhügel. Auf der Lade- fläche lagen Tote. Vom Klassenzimmer aus sah sie nur de- ren Füße. Zuhause bekreuzigte sich die Mutter und fragte in der verbotenen Sprache: Schuhe oder Stiefel?
Vater schließt das Ofentürchen. Das Buchenholz wird zur Glut, die Glut zur Asche.
Mutter erzählt: Im Schneetreiben war dieses Schleifen. Wie ein Wischen. Ein todmüdes Wischen.
Im Park vor der Volksschule steht das Kriegerdenk- mal. Nach Schulschluss versteckt er sich hinter der Parkh- ecke und beschießt die anderen mit Schneebällen. Der kleine weiße Krieger kommt zu spät zum Mittagessen und kriegt was zu hören.
Am Tag der Unschuldigen Kinder schappen sie die Er- wachsenen mit einer Rute. Sie bekommen Geldmünzen oder Süßigkeiten, und im Grenzlandheimkino gibt es eine Gratisvorstellung für die Kinder mit Dick und Doof. Sie denken nicht mehr an Herodes und den Kindermord zu Bethlehem und die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten. Der Saal erzittert unter dem Gelächter der un- geschlachteten Kinder.
Seit jenem Herbsttag lehnte er am Baumstamm, der to- te Waldkrieger am Slowenenhügel. Er hatte den Todesring der Hakenkreuzler um das brennende Gehöft durch- brochen und war schwer verwundet in den Wald gerannt. Die anderen waren von den schwarzen Stiefeln getreten und als Banditenscheiter ins Feuer gestoßen worden. Er hielt Wache für seine Aschekameraden. Das Nadeldach schützte ihn im Winter vor dem Schnee. Seinen Bruder deckte weit, weit weg der russische Schnee zu.
Der Albino sitzt in der letzten Bank. Er hat keinen Va- ter. Seine Mutter ist Aufräumerin und trinkt. Er ist schlecht in der Schule. Die Lehrer schlagen ihn. Seit der Schulreise weiß es jeder: Er ist Bettnässer. Die Buben ja- gen ihn durchs Städtchen. Er rutscht im Schneematsch aus. Sie reiben ihn ein. Er bekommt Schneelocken. Blut- jung sind sie und ihre Stimmen lachen glockenhell.
Im Stadtpark liegt der tote Soldat. Er sieht aus, als würde er liegend stramm stehen, als wäre nicht er gekippt, sondern der aschgraue Steinquader des Kriegerdenkmals.
Unversehrt liegt er da mit geschlossenen Augen, nicht einmal sein Helm ist verrutscht, und über ihm schwebt das Eiserne Kreuz. Nicht gefallen sieht er aus, nicht ein- mal hingefallen. Er liegt da, als wäre nichts geschehen. Selbst der Tod hat ihn nicht verwundet. Nur der Schnee- ball eines Volksschülers hat ihn getroffen.
Kurz vor dem Kriegsende retteten sie sich in den Tod. In Fallschirmen schwebten sie auf das weiße Grenzfeld hernieder. Die englischen Flieger wurden von den Schwarzstiefeln an die Wand der Volksschule gestellt, der Gutsbesitzer gab den Feuerbefehl. Begraben wurden sie an der Außenmauer des Friedhofs. Im Städtchen und am Slowenenhügel beteten die Frauen, dass ihre Männer, Söhne, Brüder und Väter nicht die letzte Kugel treffe.
Bäuchlings liegen sie auf den Rodeln, die Füße einge- hängt beim Vorderteil des hinteren Schlittens, eine Kette bildend, und gleiten, gesteuert von Fäustlingshänden, kopfvoraus in die frühe Finsternis, die Waldstraße des Slowenenhügels hinunter, vorne die Draufgänger, hinten die Angsthasen, denen es schon bald, mitgehangen, mit- gefangen in der Schlittenschlange, zu schnell geht. Und da kommt die große Kehre und es treibt ihn, den Hinter- sten, heraus, sein Rodel, aus der Kette gelöst, schlittert ge- gen das Schneebord am Kurvenrand, kippt um, und er stürzt kopfüber die Böschung hinunter, bleibt zwischen zwei Fichtenstämmen hängen, in das steile Dunkel blin- zelnd, mit Tränen in den Augen, weil er sich in die Zunge gebissen hat, und spuckt das warme Blut in den Schnee.
Wieder der Traum, wieder die Erinnerung. Der Last- wagen vorm Gemeindeamt. Die alte Stadtbürgerin steht auf, geht zum Fenster und schaut auf den Hauptplatz hin- aus im Schneegestöber. Auf dem Fensterkreuz hockt eine Fleischfliege. Es war ein schöner Maitag gewesen, als sie die Partisanen gleich nach dem Krieg geholt haben. Sie hatte vor Angst gefroren wie im tiefsten Winter. Wer hatte sie angegeben? Dort war sie auf die Ladefläche gestiegen zu den anderen. Sie waren im Dunkel unter der Plane ge- sessen, zusammengepfercht, und durften nicht sprechen. Als sie über der Grenze waren, hupte der Fahrer. Sie kam zurück, andere nicht. In einem Waldgraben über der Grenze liegen die Knochen der Erschlagenen. Der Schnee
deckt Gebeine zu, die der Herbstregen herausgewaschen hat. Jede Nacht sitzt sie im Dunkel auf der Ladefläche.
Jede Nacht ist sie an der Grenze.
Zum Jahreswechsel sind die Bürger des Städtchens ein- geladen beim Gutsbesitzer. Sie stehen um einen Scheiter- haufen neben dem zugedeckten Swimming Pool und stoßen auf das neue Jahr an. Der Gastgeber erzählt im Schein der Flammen: Ein Onkel von mir ist im KZ umge- kommen. Er kostet die Pause aus. Runtergefallen ist er. Das Prasseln des Feuers erhöht die Spannung. Vom Wachturm – so besoffen war er! Die Atemwölkchen der Lachenden verhauchen in der Winternacht. Ascheflocken tänzeln sternewärts.
Abends wurde der heimgekehrte Soldat immer unru- hig. Das leere Haus zu Weihnachten. Wenn er den letzten Zug auf der Schleife hörte, ging er zum Bahnhof.
Vielleicht kommen sie ja heute. 56 Bürger des Städt- chens waren über die Grenze verschleppt worden. 27 wa- ren zurückgekehrt, seine Eltern waren nicht dabei. Er hoffte noch immer. Seine Hoffnung erfror mit jedem Tag ein Stückchen mehr.
Sie fahren über den Eisenpass. Die Kinder singen mit Mutter Aus grauer Städte Mauern.
Der Vater summt mit. Plötzlich kracht es. Einen Au- genblick lang nichts, nur Weiß.
Dann sehen sie Sprünge in der Windschutzscheibe, ein Netz feiner Risse. Vor ihren Augen zerbröckelt die Schei- be. Glasstückchen fallen ihnen entgegen. Ein eisiger Luft- zug treibt dicke Schneeflocken herein. Der Vater hält den
Wagen an. Aus dem Kofferraum holen sie ihre Mäntel, Fäustlinge, Schals und Mützen. Der Vater fährt langsam. Schneefetzen tanzen herein. Der Wind pfeift. Die Wan- gen werden warm vor Eiseskälte. Die Kinder ziehen die Schals bis über die Nase. Ihnen ist kalt. Ihnen ist heiß.
Sie schauen ins Schneetreiben. Sie fahren in die Welt hinein. Mittendrin sind sie. Die Kinder wollen nach Hau- se. Sie möchten ewig so weiterfahren.
Im Fernseher läuft die Silvestersendung. Auf dem Bild- schirm sind zwei ältere Herren in Schwarzweiß. Sie dre- hen einander die Wörter im Mund um. Doppelconferen- ce nennen sie das. Die Wörter stecken einander an. Keinem bleibt seine Gestalt. Die ganze Familie schaut zu, und er lacht am lautesten. Die Wörter kippen und fallen und stehen verwandelt wieder auf. Um Mitternacht wer- den die Fenster geöffnet, aus dem Fernseher läutet die Bummerin. Draußen pfeifen und zischen und knallen Feuerwerkskörper, erleuchten das Städtchen und fallen als Funkenregen vom Himmel in den Schnee. Am Ende kippt der Grenzberg zurück in die Finsternis. In seinem Kopf explodieren lachend die Wörter.
Im Schneetreiben sieht man sie auf den Eingang des Grenzlandheims zusteuern. Sie schlittern in ihren Tanz- schuhen. Beim Sportlerball am Faschingdienstag sind alle Bürger kostümiert. Unter Wintermänteln sind nicht nur Frauenbeine mit Netzstrümpfen zu sehen. Manche Män- ner haben Nasen mit angeklebtem Schnurrbart.
Der Gutsbesitzer ist als Sträfling verkleidet. Um seinen Bauch spannen sich die Häftlingsstreifen. Die späten Paa-
rungen in der Kellerbar werden das Stadtgespräch der Fastenzeit sein.
Nachts tollen die ungeborenen Kinder und Kindeskin- der der Gefallenen um das Kriegerdenkmal und das Par- tisanendenkmal herum und hinterlassen keine Stapfen im Schnee.
Und der Grenzbär wintert sich ein in der Höhle im Niemandsland.
Er schüttelt die Schneekugel.
Schnee fällt auf das Grenzland. Zugeschneit die Stra- ßen zum Städtchen. Zugeschneit die Wege am Slowenen- hügel.
Er schreibt Namen des Mädchens in den Schnee. Sei- nen schreibt er nicht dazu.
In den Rillen wartet die Musik. Die schwarzen Ringe sind die leisen Stellen und die grauen die lauten. In der schräg einfallenden Wintersonne sieht er jedes Staub- körnchen auf der schwarzen Scheibe. Nach dem Abwi- schen folgt die Wandlung: das Auflegen der A-Seite, das Klacken beim Einschalten, das Niedersinken des Ton- arms, das Rauschen vor dem ersten Stück. Das Zauber- wort: Vinyl. Die Scheibe dreht sich. Sanft ist der Beginn. Er lauert auf den Übergang. An der Grenze zwischen Grau und Schwarz wird er ganz.
Das Weihwasserbecken füllt ein Eisblock mit einer dünnen Wasserschicht darüber.
Seine Finger wischen beim Hinaustreten ein kaltes Kreuz auf die Stirn. Daheim lehnt er sich an die Wand des Kachelofens, und Klammheit und Kälte vergehen, wie die
Buchenscheiter vergehen in ihrem Fegefeuer. In den Fin- gerspitzen spürt er noch lange die Weihwasserkälte.
Mutter erzählt: Es kommt näher und näher, das Schlur- fen, das tausendfüßige. In die Mulde strömen sie hinein, Menschen in zerfetzten Kleidern, mit Lumpen an den Fü- ßen. Ausgemergelt sind die Körper, eingefallen die Gesich- ter, grau die Haut, tiefe Furchen im Gesicht, erloschen die Augen. Sie lagern auf unserer Wiese, eine graue Menschen- masse in der Abenddämmerung, auf den gefrorenen Wie- sengrund gekippt.
Die Tür geht auf. Stimmen, Musik, Lachen, ein Licht- streifen fällt auf den zerstampften Schnee. Sie sind immer noch verschwitzt vom Tanzen. Ribiselwein haben sie ge- trunken und Luftgitarren gespielt. Sie kommen aus dem Purple. Der neue Kaplan trägt lange Haare und hat den Jugendclub gegründet. Der ist im Haus neben der Kirche. Die Slowenen haben ihren im Pfarrhof. Die Nacht ist ster- nenklar und eiskalt.
Er singt Sweet Child in Time, hoch und leise, wie er es von dem goldenen Doppelalbum her kennt, zwischen den Gässchen des Städtchens, wie in seine Atemwölkchen hinein.
Er singt sich an die Grenze heran, an den Übergang zwischen grau und schwarz, leis und laut, singen und schreien. Er möchte in die Welt hinein singschreien, ja, bis zu den Sternen hinauf, aus seinem purpurroten Inne- ren heraus und in alles hinein.
Beim Schulschikurs sind drei Schüler aus der Parallel- klasse unter eine Lawine gekommen. Sie waren die letzten
in der Kolonne, die den Hang gequert hatte. Einer ist aus dem Städtchen. Der weiße Tod hat ihn unter sich begra- ben, heißt es im Ort.
Über Nacht, erzählen sie einander, hat der Lehrer schneeweißes Haar bekommen.
Sein Mittelfinger und der Zeigefinger sind gelb ver- färbt. Der Kriegsinvalide sitzt im Wirtshaus und vernebelt den ganzen Tisch mit dem Rauch seiner Selbstgedrehten.
Sein Stock lehnt an der Wand, sein steifes Bein ragt un- ter dem Tisch hervor. Er bestellt eine Runde Schnaps. Sie sind stolz, mit einem Erwachsenen mittrinken zu dürfen.
Vater sagt: Er hat zur SS gewollt, aber sie haben ihn nicht genommen, weil er zu klein war.
Der Wirt bringt die Schnäpse. Er war im KZ, weil er ein Slowene war. Der Invalide prostet ihnen zu. Seine Stirn ist zerfurcht. Sie verstehen ihn kaum, er lallt etwas von Volks- erhebung. Ihr, ihr werdet sie durchführen, sagt er in den Dunst hinein. Dann senkt er seine Stimme, die Stirne legt sich in noch tiefere Furchen, und er flüstert: Ich weiß, wo die Waffen versteckt sind. Für die neue Zeit. Er bestellt noch eine Runde. Ihr seid die neue Zeit! Immer wieder bumst eine Fleischfliege gegen die vereiste Fensterscheibe.
Später wankt der Kriegsversehrte zur Tür hinaus und der Wirt ruft ihm nach: Pass auf!
Es ist Glatteis.
An der Rückseite des Nachbarhauses bleibt der Schnee am längsten liegen, rußfleckig und hässlich. Es ist die Grauzone des Gartens, ein Streifen ohne Sonne, verschat- tet den ganzen Tag, das ganze Jahr. Dort muss sich der
Purple-Heimkehrer übergeben. Die Kotze dampft im grauen Schnee und ist ribiselrot. Noch am nächsten Tag fühlt er sich hundeelend. Er ist heiser. Trotzdem singt es in ihm. Sweet Child in Time. Sein Rachen ist purpurrot. Es singt ihn durch die Wintertage.
Im Schuss fährt er den Tiefschneehang hinunter zur Schistraße. Die Schispitzen bohren sich in einen großen Schneebrocken am Straßenrand. Es hebt ihn aus. Die Schier reißt es ihm von den Schuhen, einer trifft ihn auf den Kopf, während er durch die Luft fliegt, mitsamt den Schiern, die an den Riemen hängen, und er landet bäuch- lings auf der Straße. Da liegt er und rührt sich nicht. Eine unbegreifliche Seligkeit durchströmt ihn.
Jetzt beginnt er zu spüren, dass er sich nichts getan hat. Er liegt allein auf der Schistraße am Grenzberg. Er mag gar nicht aufstehen. Ihm ist schummrig vor Glück.
Und der Grenzbär träumt das weiße Land ans Meer. Er schüttelt die Schneekugel.
Schnee fällt auf die Grenze.
Er stapft ein Kreuz in den Schnee. Ihr Name ist der Querbalken, seiner der Längsbalken. Sie teilen einen Vo- kal im Schnee.
Die beiden Nachbarn am Slowenenhügel bauen mit ih- ren Kindern einen Schneemann.
Später treffen sie einander im Städtchen bei der Pest- säule. Oben reden sie miteinander in ihrer Mutterspra- che. Unten spricht der eine nur mehr deutsch. Als der andere wieder oben ist, sagt er zum Schneemann: Der glei- che Mensch ein anderer Mensch.
Seine Eltern sind dagegen, ihre auch. Nach dem Ball küsst er sie, draußen, in der Februarnacht, schlotternd vor Kälte, bebend vor Erregung. Sie lächelt ihn an mit ih- ren Augen und flüstert ein slowenisches Wort. Sie wieder- holt es, aber sie verrät nicht, was es bedeutet. Seine Hand gleitet unter ihren Mantel, unter ihre Bluse, unter ihren BH und birgt ihre Brust in seiner Handmulde. Ihr Nippel stupst ihn in den Handteller. Er weiß nicht, warum er später, allein in seinem Bett, an den Nagel denken muss, der sich durch die Hand des Gekreuzigten bohrt.
Er ist wie immer der Letzte. Seine Freunde sind schon unten. Er dreht seine Schier in Falllinie. Jetzt halten ihn nur noch die Schistecken. Sein Herz pocht. Jedes Jahr gibt es einen Schitoten am Grenzberg. Die Schispitzen ge- ben die Richtung an: geradeaus hinunter. Er fährt los. Im Schuss! Er klemmt die Stöcke unter die Achseln. Es fährt.
Sein Herz rast. Zum Abschwingen ist es zu spät. Er spürt den Schweiß unter der Wollstrumpfhose und unter der Haube. Die Schier zittern. Er geht tiefer in die Hocke.
Sie flattern. Er möchte jauchzen. Er ist ganz allein auf der Piste. Jetzt kommt der Übergang zur Gegenschräge, die Mulde, die ihn zusammenstaucht und ihm fast die Luft abschnürt, ihn einen Augenblick lang betäubt, aus der Welt fallen lässt in eine weiße Wölbung, bevor es ihn hebt und nach oben zieht, den Gegenhang hinauf, und schon wünscht er, er wäre von weiter oben gestartet. Sei- ne Freunde unten haben die Schier schon abgeschnallt. Später sitzen sie im Auto und hören Musik in voller Laut- stärke. Die Schiunterwäsche klebt an ihren Leibern, ihr
Haar ist verstrubbelt, sie haben heiße Backen, sie sind müde und durstig. Sie möchten weiterfahren in die her- einbrechende Dämmerung hinein, in die nahe, ferne Welt. Ihr Glück fühlt sich weich an. Und randlos.
Gegen ihren Willen sind ihr Tränen in die Augen ge- stiegen. Dabei hat sie sich geärgert, dass der Pfarrer in der Mette wieder zu viel slowenisch gesprochen hat. Am Sonntag gibt es eine rein deutsche und eine rein sloweni- sche Messe. An den hohen Feiertagen aber wird in Gottes Namen Sein Wort in beiden Sprachen verkündigt. Sie weiß, für alle dehnte sich die zweisprachige Weihnachts- predigt zur Doppelqual. Es kann doch hier jeder deutsch, flüstert sie zu ihrer Banknachbarin, bevor das slowenische Kirchenlied erklingt. Sie hört die Altstimmen und spürt ein Ziehen in der Brust, als wäre ihr nichts vertrauter auf dieser Welt als diese Lieder.
Er steht unter der Laterne. Er schaut seinen Atem- wölkchen nach und in die Schneeflocken, die ihm aus dem Lichtkegel entgegenstürzen. Er kann sich nicht von der Stelle rühren. Was hat sie genau gesagt? Nur kurz sind sie zusammengestanden.
Er kam aus der deutschen, sie ging in die slowenische Messe. Warum hat er es gleich verstanden? Und warum hat es ihn erleichtert, wo er es doch so gefürchtet hatte? Kalt ist ihm nicht. Er weint warme Schneeflocken. Er stellt sich vor, dass sein Atemhauch die Kristalle zum Schmelzen bringt.
Wieder ist einer gestorben, der war für die einen slo- wenisch, für die anderen deutsch.
Der Pfarrer hört nicht auf zu predigen im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und das in beiden Sprachen. Alle sind steifgefroren, nur dem Toten ist nicht kalt. Der ist nach der Mette am Kirchbichl ausge- rutscht und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen und ist noch vor Jahreswechsel gestorben. Immer trifft es die Kirchgänger, sagt einer nach dem Begräbnis. Und bei der Beerdigung holt man sich den Tod, sagt ein anderer.
Auf dem Grenzberg hat es dieses Jahr das erste Mal ge- schneit. Er öffnet das Fenster.
Schneeluft. Er sieht den Nachbar aus dem Haus kom- men. Er hört Hupen, es kommt von weit her, es kommt näher, es kommt von allen Seiten aus der Dämmerung.
Autoscheinwerfer, erregte Stimmen, zugeschlagene Wagentüren, startende Autos, ein Konvoi, Hupen, im ganzen Städtchen Hupen. Die Wagenkolonne fährt im Schritttempo in die Nacht hinaus. Noch lange hört er das Hupen.
Die verloschenen Scheiter wärmen die Stube. Im Fern- seher schneit es. Kein Bild vom Abfahrtsrennen, kein Ton vom Sportreporter, nicht einmal ein Testbild, nur graue Flocken. Eine Fleischfliege bumst gegen die Fensterschei- be mit den Eisblumen und surrt zu Boden.
Mutter erzählt: Langsam schieben sich die Knochen- menschen durch das Gatter. Ihre Füße schleifen über die Landstraße. Männer in Uniform mit Gewehr begleiten sie. Das Schlurfen ist noch lang zu hören. In der Morgenhelle bleibt nur ein großer, unförmiger schwarzer Abdruck zu- rück auf der Reifwiese.
Sie haben ihre Autoschilder abgedeckt. Die neuen Ortstafeln sind zweisprachig. Sie reißen sie aus. Keine bleibt stehen. Ihre deutschen Vornamen kämpfen gegen ihre slowenischen Nachnamen. Sie feiern den Sieg ihrer Vornamen und hupen wie bei einer Hochzeit. Der Albino wirft ein Ortsschild in den Grenzfluss. Im Licht des Auto- scheinwerfers leuchtet sein Schneelockenkopf. Der Guts- besitzer steht im Dunkel an seinen Wagen gelehnt und schaut zu. Geräumte Straßen führen zu Ortschaften ohne Anfang und Ende in einer Landschaft aus Nebel und Schnee.
So einen wie ihn heißen sie im Städtchen Schmierer. Er selbst nennt sich Beschrifter.
Er will nicht länger, dass seine Sprache auf der dun- klen Seite des Mondes lebt. Sein Vater bebt am ganzen Leib, wenn er von seinen Stacheldrahttagen zu erzählen versucht und nur stammeln kann: Tote Tote Tote. Wenn es finster wird, schleicht er vom Slowenenhügel ins Tal und zittert nicht, wenn er über die deutschen die sloweni- schen Ortsnamen malt. Tags darauf werden die Nachtlet- tern sichtbar im Wintersonnenlicht.
Ihre Eltern waren Keuschler vom Slowenenhügel. Sie müssen jeden Schilling zweimal umdrehen. Nach der Fa- brikarbeit bauen sie ihre Häuser draußen vor der Stadt. An diesem eisigen Tag aber verbauen sie ihre Zeit nicht und ruhen. Sie häuseln sich ein.
In den Nachrichten hören sie vom Streit der beiden Volksgruppen. Sie wollen mit all dem nichts zu tun ha- ben. Sie haben andere Sorgen. Mit ihren Kindern reden
sie deutsch. Die alte Keuschensprache wird in der neuen Siedlung nicht heimisch.
In der längsten Nacht, wenn sich nichts regt im Städt- chen unter der Schneehaube, kann man sie alle flüstern hören, die Gefallenen, Ausgesiedelten, Verschleppten, all die Abgetanen, und in der Luft ist ein wimpernfeines Sirren von durchsichtigen Stimmen, hergeweht von den Friedhöfen des Grenzlandes, und sie reden nicht deutsch und nicht slowenisch, sondern sirren ein Gibberisch, das nur sie verstehen, und ihre Stimmen verschlingen sich zu einem gleichmäßigen leisen Windpfeifen, und wenn der Frühzug einfährt, sind sie nur mehr stimmlose Luft, die frierende Pendler am Bahnsteig einatmen und ausatmen, von einem Fuß auf den anderen tretend, schlotternde Gestalten, die trotz der dicken Wintermäntel dünn, ja mager erscheinen im Wind, der von den Gottesäckern herweht.
Und der Grenzbär erwacht aus seinem Winterschlaf. Er hält die Schneekugel. Sie fällt.
Im Schnee beben der Hauptplatz, die Pestsäule, die Kirche, das Grenzlandheim, das Schloss, der Eisenpass, der Slowenenhügel, der Grenzberg.
Alle Fährten zugedeckt, jede Spur verloren.
Schüsse hallen in der Kuppel aus Schnee. Immer wie- der fällt einer nieder im Schneetreiben. Judentreiben. Die anderen schleifen darüber. Die steile Straße zum Eisen- pass hinauf. Barfuß im Schnee. Wieder ein Schuss. Wie- der fällt einer. Blutstropfen im Schnee. Schneetreiben. Judentreiben. Flocken fallen. Decken alles zu.
Decken nichts zu. Schüsse fallen. Juden fallen. Eisen- rote Schneekristalle. Gelber Stern.
Unter der Kuppel schneit es Blut.
Das Weiß ist ohne Namen. Ein undurchdringliches Gemisch von Hell und Dunkel verschlingt das Städt- chen und den Slowenenhügel, und die Grenze wird un- sichtbar.
Der Grenzberg bebt, aber die Spurlosen liegen seit ih- rem Ende namenlos und unbewegt im weißen Sinken.
Der Boden zittert unter seinen Schritten. So stapft er durch den Schlaf der Träumenden am Slowenenhügel und im Städtchen. Sie sehen seinen Schatten diesseits und jenseits der Grenze in der weißwirbelnden Finsternis. Der Grenzbär brummt Worte, die keiner kennt. In ihren tief- sten Träumen verstehen sie seine Sprache und sind unver- loren.
Er hält die Schneekugel in der Hand. Die Kuppel hat einen Sprung.
Eine hauchdünne Schneeschicht liegt auf den Beeten. Der Nachbar lugt durch den Gardinenspalt. Über die weißbestäubte Erde streut Vater Asche, die ist übrigge- blieben von den Buchenscheitern im Kachelofen.
Es ist stockfinster. Er geht durch den frischen Schnee zum Bahnhof. Er fährt in die andere Richtung, in die gro- ße Stadt. Bei der Kreuzung auf der Umfahrungsstraße schaut er zurück und sieht sein Spurenpaar wie einen Weg in der Dunkelheit verschwinden. Dann folgt er den Schuhstapfen der Pendler vor sich. Er ist der Einzige am Bahnsteig mit einem Koffer.
Am Schreibtisch steht die Schneekugel. Es ist tiefer Juli. Im Vorhang verfängt sich die Sonne.
Schnee liegt unter der Kuppel. Er schüttelt die Schneekugel. Er sieht: ein weißes Blatt.
H
Biografia: Hugo Ramnek
ugo Ramnek (Klagenfurt 1960). Studium der Anglistik und Germanistik in Wien und Dublin; Besuch der Schau- spiel Schule in Zürich.
2013, Heinz-Weder-Anerkennungspreis für Lyrik, Bern; 2012, erster Züricher Lyrik-Preis; 2012, mit der Er- zählung Kettenkarussell (Wieser Verlag 2016, Klagenfurt) für den Ingeborg Bachmannpreis nominiert; 2010, Litera- rische Anerkennungsgabe der Stadt Zürich; Salzburger erostepost Literaturpreis für die beste erotische Geschich- te; 2008, Preis des Kärntner Schriftstellerverbandes.
Im Wieser Verlag bisher erschienene Bücher: Das Letz- te von Leopold (2019); Meine Ge-Ge-Generation. Eine Jukebox. 45 neue Texte zu alten Blues- und Rockscheiben (2017); Momentum, Texte zu Bildern von Arno Popotnig (2013); Kettenkarussell (2012); Der letzte Badegast (2010).