Premio Letterario Internazionale Merano-Europa – Dodicesima Edizione – 2017
Internationaler Literaturpreis Merano Europa 12. Ausgabe 2017
Narrativa in tedesco – Italienische Erzählprosa 2017
Primo Premio
Nadia Rungger
Der Dirigent
Download PDF Nadia Rungger Der Dirigent
Ich spiele oft auf Hochzeiten. Das bedeutet nicht, dass ich es gerne tue. Das heißt, ich spiele gar nicht selbst. Ich halte den Dirigentenstab in meinen Händen, die Musik ist meine Freiheit. Doch bei Hochzeiten geht es nicht um Freiheit. Die Musik wird zum Spiegel einer Welt, anstatt eine Welt für sich zu sein.
Ich straffe den Rücken und hebe die Hände. Die Augen der Musiker haften an mir. Die Luft zwischen uns vibriert, und ich zerreiße sie mit meinem Stab. Die Geiger setzen zum ersten Ton an. Lasst den Abend beginnen.
Das Brautpaar erscheint bald auf der Tanzfläche. Ich lasse meine Instrumente nicht aus den Augen, doch etwas lenkt mich ab. Ich schaue genauer hin. Und plötzlich tanze ich mit einer Frau in einem weißen Kleid.
Ines starrt mich an.
Ich: „Was ist?“
Ines: „Du magst die erste Geige spielen, tanzen kannst du jedenfalls nicht.“
Ich sage nichts. Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Also lassen wir das Tanzen sein, obwohl ich die Gebühren füreinen ganzen Kurs bereits überwiesen habe. Ich fühle mich seltsam erleichtert, als wir nach der ersten und letzten Kurseinheit in die kühle Nachtluft treten, und summe eine Melodie vor mich hin.
Ines sagt: „Du kannst nur nicht tanzen, weil du es nicht ausstehen kannst, dass jemand anders als du den Takt angibt. Deshalb.“
Dann sprintet sie los. Obwohl sie noch die Tanzschuhe mit den hohen Absätzen trägt, hole ich sie erst an der nächsten Kreuzung wieder ein. Autos düsen an uns vorbei. Ihre Scheinwerfer blicken uns unverhohlen an. Ich frage mich, ob sie an diesem Samstagabend mehr sehen als zwei Jugendliche, die, aneinander angelehnt, an einer Kreuzung darauf warten, dass die Ampel auf Grün springt.
Ines: „Das gilt nicht.“
Ich: „Renn doch weiter, wenn du willst.“
Ines küsst mich, und als sie mich loslässt, ist die Ampel immer noch rot.
Plötzlich finde ich das gut.
Die Treppe, die zur Eingangstür führt, gleicht einer Not- falltreppe. Unsere Wohnung liegt im vierten Stock. Einen Aufzug gibt es aus Platz und Geldmangel nicht. Im flackernden Licht der Neonlampe steigen wir hinauf. Ich voraus, Ines hinter mir her, fast widerwillig.
Ines sagt: „Es ist, als würde man zu einem Parkplatz gehen. Immer denke ich, da oben steht unser Auto, wir steigen ein und fahren weg.“
Ich lehne mich ans Treppengelände und blicke nach unten. Zwei Fahrräder lehnen an der Hauswand. Sie sind nicht angekettet, weil niemand auf die Idee kommen würde, so etwas zu stehlen. Eher würde die Müllabfuhr auf die Idee kommen, sie mitzunehmen. Aber nichts davon ist bisher passiert.
Egal. Wir haben kein Auto.
Jeder Schritt ist ein Geräusch für sich, und verliert sich in der unsicheren Dunkelheit neben uns. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob mir der metallene Lärm gefällt oder nicht. Ich trete besonders fest auf, konzentriere mich auf das Echo und den Rhythmus.
Ich: „Ines, hör mal …“
Plötzlich habe ich keinen Boden unter meinen Füßen.
Ich rudere mit den Armen und liege in der nächsten Sekunde auf den Treppen.
Stöhnend drehe ich mich auf den Rücken. Ines schaut ungerührt auf mich hinunter.
Ich: „Das war ein Experiment. Ein Klangexperiment!“
Ines nickt: „Natürlich. Musiker mit Leib und Seele.“
Sie reicht mir die Hand und zieht mich auf die Beine.
Ich strecke mich und bewege prüfend alle Glieder, besonders die Finger. Sie brennen. Aber alles intakt.
Auf dem Boden liegt ein Stapel der Lokalzeitungen und anderer Magazine, die der Postbote jeden Montag liefert. Erst wenn er dann am nächsten Montag die neuen bringt, entsorgt er die alten. Ines ist die einzige, die das Blatt liest. Die Nachbarn lassen den Stapel einfach liegen. Ich schnaube wütend.
Ines lacht plötzlich. „Worte sind da, um Menschen zum Stolpern zu bringen. Merk dir das.“
Dann geht sie an mir vorbei nach oben. Ich höre, wie sie ihren Schlüsselbund aus der Tasche holt und den einen sucht, der Sinn macht. Sind bestimmt mehr als hundert Schlüssel, und jede Woche hängt ein neuer dran. Manchmal frage ich: „Was sperrt dieser Schlüssel auf?“ Und Inessagt: „Nichts. Die Putzfrau der Stadtbibliothek hat ihn mir gegeben, weißt du, letzten Monat haben sie dort renoviert. Es gibt keine Tür mehr für diesen Schlüssel. Also kommt er zu mir.“ Und während Ines da steht, und nach dem Schlüssel sucht, hole ich meinen aus der Tasche und sperre die Tür auf.
Ines ist Einzelkind. Das betone ich, weil ich aus einer Familie mit fünf Kindern komme. Ich bin der jüngste. Ich hatte als Junge also vier Geschwister, die mir das Leben vorlebten. Ines sagt: „Du hattest jemanden, der dir bei den Hausaufgaben half. Das hatte ich nie.“
Ich nicke dann. „Ich hatte auch jemanden, der mich auslachte, mich dumm nannte, mich aus dem Raum schickte, wenn ich meine ersten Versuche auf der Geige unternahm, und meine zweiten, und meine dritten.“
Was Ines nicht versteht, ist, dass mir das gut getan hat. Wirklich. Wenn mich meine Familie mein Leben lang gelobt hätte und gesagt hätte, ich wäre ein guter Musikerich glaube nicht, dass ich ein solches Durchhaltevermögen entwickelt hätte, wie ich es jetzt besitze.
Ich übe täglich fünf bis acht Stunden. Das muss jeder tun, der einmal ein guter Musiker werden will. Und wenn ich sage: jeder, dann meine ich das auch so. Ich glaube nicht an Talente. Erfolg zeichnet sich an Ehrgeiz und Fleiß ab.
Ines ruft: „Mittagessen!“
Nach dem Mittagessen übe ich weiter. Tonleitern, bis die Finger bluten. Aber es ist ein süßer Schmerz, den ich mit Leichtigkeit ertragen kann, wenn ich meinen Träumen damit einen Schritt näher komme.
Ines: „Abendessen!“
Das Abendessen besteht meistens aus den Resten vom Mittagessen. Und das Mittagessen aus den Resten vom Abendessen des Vortages. Ich frage mich, ob wir überhaupt etwas essen oder ob wir uns am Tisch gegenüber sitzen und uns anschauen. Ich könnte Ines jedenfalls stundenlang anschauen.
Ines: „Mach wenigstens den Mund zu beim Kauen.“
Ich musiziere, Ines schreibt. Und studiert Germanistik. Oder Komparatistik oder so. Aber das mehr so nebenbei. Wenn jemand sie fragt, ob sie Dichterin werden will, sagt sie, sie wolle es nicht werden, sie sei es bereits. Aber wer sagt das? Ist das Überzeugung, die von Innen kommt, oder braucht es andere Menschen, die einen selber definieren? Wenn mich jemand fragt, ob ich Dirigent bin, verneine ich. Ich werde nie Dirigent sein, und ich werde nie aufhören, zu versuchen, es zu werden.
Ines’ Werke stapeln sich auf ihrem Nachtkästchen, hängen auf bunten Postit’s am Badezimmerspiegel, an ihren Bücherregalen und an meinen Musikinstrumenten, ich habe gerade noch meine Notenblätter vor ihrer Feder retten können. Man findet sogar einige Verse neben den Rezepten in den Kochbüchern gekritzelt.
Manchmal liest Ines mir ihre Gedichte vor.
Ines: „Hörst du mir überhaupt zu?“
Ich: „Aber ja doch. Das Gedicht klingt gut!“
Ines zuckt zusammen. „Es klingt gut?“
Wir haben Geld gespart. Für einen Staubsauger. Noch sind wir beide nicht so berühmt, dass wir Geld einfach so ausgeben können, allein durch die Miete steht uns das Wasser bis zum Hals.
Wir haben das Gerät auf dem Flohmarkt ersteigert, ein älteres Modell.
Ich: „Immer noch besser als gar nichts.“
Bald dürfen wir in der Küche barfuß herumgehen, ohne dass sich bei jedem Schritt Brotbrösel zwischen den Zehen einnisten. Besonders Ines findet Gefallen am Staubsauger, sie benutzt ihn jeden Tag. Ich musiziere im Zimmer nebenan, sie fährt mit dem Staubsauger über den ohnehin sauberen Boden.
Ich: „Kannst du bitte staubsaugen, wenn ich nicht spiele?“
Ich hätte es besser nicht sagen sollen. Mitten in der Nacht werde ich von fürchterlichem Krach geweckt. Etwas saugt alle meine Träume in sich hinein, bis nichts davon mehr übrig ist und ich die Augen aufschlage. Ich tappe in die Küche. Dort stehen Ines und der Staubsauger.
Ich ziehe den Stecker und es wird noch lauter.
Langsam sage ich: „Was ist los, Ines?“
Ines: „Als du sagtest, immer noch besser als gar nichts, da hast du es zu mir gesagt.“
Ich runzele die Stirn. „Ich habe den Staubsauger gemeint!“
Ines: „Ich weiß!“
Ich bemerke, warum es in der Küche plötzlich leer aussieht: Ines hat alle bunten Post-it’s mit ihren Gedichten eingesaugt. Am Boden liegt noch ein letztes. Ich hebe es auf. Da steht: Nicht immer ist das Leben rosa, manchmal schreibt der Dichter Prosa. Und darunter, mit Bleistift: Bis er am Ende doch kapiert, dass selbst das nicht funktioniert.
Ines weint. Ich will sie trösten, aber sie stößt mich von sich. Sie schreit: „Ich kann dich nicht mehr hören! Ich kann nicht!“
Mehrmals habe ich in Erwägung gezogen, den Staubsauger zu entsorgen. Oder zurück zum Flohmarkt zu bringen, wo er hingehört. Er ist besser als gar nichts, aber schlechter als alles, was Ines und mir hätte passieren können. Ich fliehe in die Universität und übe dort. Wenn ich abends zurückkomme, finde ich kein einziges Staubkorn in unserer Wohnung. Auch von Ines keine Spur.
Es ist nicht so, dass sie ausgezogen wäre. Ihre Zahnbürste steht im Bad neben meiner, ihre Shampoo Flaschen sind den Farben nach in der Dusche aufgereiht, ihr Pyjama liegt nach wie vor unordentlich zusammengeballt unter ihrem Kissen, sodass es ganz schief steht, das Kissen. Sie ist noch da, isst mit mir zu Mittag, stochert mit der Gabel in ihrem Salat und schaut mich an. Aber sie ist mit den Gedanken ganz woanders.
Ines sagt: „Das bist du auch. Das bist du immer schon gewesen.“
Einmal kommt sie nach Hause, als ich schon schlafe. Sie streift die Schuhe ab und lässt sich ins Bett fallen, halb höre ich, halb spüre ich wie sie sich zu mir hinüberbeugt und mich an die Schulter fasst.
Ines flüstert: „Sag mir…“
Ich: „Ja?“
Ines zögert. „Nein. Sag einfach gar nichts.“
Ich will mich aufrichten, aber Ines hält mich fest, drückt mich nach unten. Ihre Lippen finden meine.
Erst da merke ich, wie hungrig wir eigentlich sind. Alle beide.
Am nächsten Tag trage ich den Staubsauger in die Besenkammer.
Als ich das bekannte Dröhnen ohne Vorankündigung wieder höre, läuft es mir eiskalt über den Rücken. Es ist schlimmer als alle Dissonanzen, die es in der Musik gibt. Es hat keinen Klang. Es ist bloß Lärm. Von ersticktem Schluchzen unterbrochen.
Als Ines sich beruhigt hat, sagt sie mir: „Ich wollte noch aufräumen, bevor ich gehe.“
Plötzlich weiß ich, dass es aus ist. Die Ampel ist auf Grün gewechselt. Ich setze mich. Ich weiß, dass es sinnlos ist. Dass sie sich schon entschieden hat. Dennoch reden wir lange, bis in die Nacht hinein, bis der Morgen graut. Wir reden so lange, bis ich merke, dass Ines gar nicht reden will, seit Monaten nicht mehr, dass Ines genug hat von Worten, dass sie in ihrem Studium verzweifelt. Wir reden so lange, bis alle Worte, die Ines noch für mich übrig hat, ausgesprochen sind, bis ich keine Worte mehr wahrnehme, sondern nur noch Klang. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, worüber wir reden.
Aber ich weiß, dass Ines so traurig klingt, wie ich sie noch nie gehört habe.
Schließlich reden wir so lange, bis uns der Abschied nicht mehr schwer fällt. Es dauert eine ganze Weile.
Hätte sie mir da schon die Wahrheit gesagt, hätte ich es nicht geglaubt. So aber erfahre ich es einige Jahre später. Ines hat den Tanzkurs weiter besucht. Mit einem Taubstummen. Die Friseurin sagt es mir, während sie mit dem Rasiermesser über meinen Hinterkopf streicht. Was daraus geworden sei, wisse sie nicht. Ich beobachte sie im Spiegel. Dann kehrt sie meine Haare zusammen. Ich weiß, dass es keinen Unterschied gemacht hätte. Besen oder Staubsauger.
Jetzt spiele ich also auf Ines’ Hochzeit. Ich frage mich, ob das der Mann ist, der sie an der Taille festhält und herumwirbelt. Der Taubstumme. Man möchte meinen, tanzen ginge gar nicht, wenn man nichts hört. Der Mann an Ines’ Seite sieht gar nicht behindert aus. Und er kann tanzen. Aber sollte er es wirklich sein, hatte er Übung. Ich habe ihm ja einen Tanzkurs bezahlt. Ein Knacken geht in der Musik unter, fast als es gehöre zum Lied dazu. Das Kna- cken meines Dirigentenstabs.
Ich habe den Tanzkurs bezahlt. Jetzt bezahlt Ines die Musik.
Die Instrumentalisten merken, dass ich unkonzentriert bin. Ich kann nichts dagegen machen. Alle zwei Takte schwenkt mein Blick zum Brautpaar. Schweiß tropft von meiner Stirn auf das Papier. Ich blättere um. Die gedruck- ten Noten klingen anders, als das, was gerade gespielt wird. Ich bin auf der falschen Seite.
Ich höre Ines sagen: „Das bist du immer schon gewesen.“
Das Lied dauert nicht mehr lange. Ich schließe die Augen, bewege die Arme wie zufällig und hoffe, dass die Me- lodie ohne mein Zutun einen guten Ausgang findet, dass die richtigen Töne zueinander finden.
Die Geiger ringen mit schnellen Synkopen und kämpfen gegen die Zeit. Ich frage mich, ob ich für Ines hätte kämpfen sollen, damals. Dann verscheucht ein grandioses Crescendo alle meine Gedanken, ich spüre nur noch Musik und bin überwältigt von der Klarheit des letzten Akkords.
Das Lied ist zu Ende. Ich bin davon überzeugt, dass es keinen Unterschied gemacht hätte. Jedes Lied hat ein Ende. Stolz drehe ich mich zur Tanzfläche um und verbeugemich. Ein Raunen geht durch die Paare. Schnell richte ich mich wieder auf.
Ein Paar tanzt noch. Hat nie aufgehört, zu tanzen. Hat nie zu meiner Musik getanzt.
Es ist das Brautpaar.
Biografia: Nadia Rungger
Nadia Rungger, Jahrgang 1998. Sie lebt im Grödnertal und ist zwischen Ladinisch, Deutsch und Italienisch aufgewachsen. Sie besuchte das Sprachengymnasium in Brixen. Ihre Kurzgeschichten publizierte sie in verschiedenen Anthologien. 2015 gewann sie den 1. Pergamenta Jugendliteraturpreis. Sie schreibt, weil die Worte in der Feder gefangen sind und heraus wollen. Weil die Fingerspitzen jucken. Schreibt, damit der Kopf frei wird für neue Gedanken. Schreibt, damit Menschen sich umdrehen oder weitergehen. Je nachdem. Neuerdings schreibt sie auch Lyrik.