- Serata di premiazione dei vincitori dell’Undicesima edizione – 2015
- Finalisti – Finalist-innen – Vincitori – Sieger 2015
- Francesca Quarta – Narrativa in italiano – Italienische Erzählprosa 2015
- Eva-Maria Thüne – Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa 2015
- Werner Menapace – Primo premio Traduzione dal Tedesco 2015
- Antonio Staude – Secondo premio Traduzione dal tedesco 2015
- Traduzione dall’italiano 2015
- Galleria fotografica 2015
- Presentazione dell’edizione 2015
- Giuria – Jurys 2015
- Bando e regolamento 2015
- Ausschreibung 2015
Premio Letterario Internazionale Merano-Europa – Undicesima Edizione – 2015
Narrativa in tedesco – Italienische Erzählprosa 2015
Primo Premio
Eva-Maria Thüne
Staubblau
Der Ort
Der Ort, an dem sie geboren wurde, hatte keinen Namen. Man nannte ihn Miwepa, das heißt Mitteldeutsche Welpappenfabrik. Das Gelände an der Landstraße war von einer hohen grauen Mauer umgeben, dahinter qualmende Schornsteine. Ein Tor, das oben mit Stacheldraht versehen war, öffnete sich manchmal, dann verschluckte es Lastwagen und Menschen, abends spuckte es einen Betriebsbus und Leute auf Motorund Fahrrädern aus. Kaum jemand ging zu Fuß.
Drüben, auf der anderen Seite der Landstraße, standen fünf Häuser. Keiner von denen, die dort wohnten, arbeitete in der Fabrik. Es war wie ein anderes Land direkt vor ihrer Nase, mit dem sie nichts zu tun hatten. Bis auf die Luft, bis auf den Namen.
Das Haus, in dem sie groß wurde, war das erste in der Reihe und das älteste. Erbaut mit Steinen, die man sich vom Mund abgespart hatte.
„Jeder Stein ein Scheibe Brot weniger“, sagte die Alte.
„So hat dein Großvater die Steine gekauft und den Hunger im Geldbeutel getragen.“
Das Mädchen hörte die Steine vom Hunger klagen, wie ein leerer Bauch war das Haus um es herum. Aber das Mädchen hatte nie Hunger. Man musste ihm den Löffel in den Mund stecken. Suppe gab es jeden zweiten Tag, Linsensuppe, Graupensuppe, am Sonntag Brühe mit selber gemachten Nudeln. Und immer fett. Die Fettaugen blickten vom Teller auf: heiße, kugelrunde Augen. Die Augen eines Monsters. Hungermonster. Sattmonster. Das Mädchen wusste es nicht. Es wusste nur, dass es sie nicht in sich haben, sie nicht den Hals herunterrutschen und sich von innen anstarren lassen wollte.
„Das Fett wird euch eines Tages noch fehlen“, sagte die Großmutter, wenn die Mutter den Teller wegtrug und dem Mädchen eine Scheibe Brot gab. „Alles, was ihr heute nicht wollt, wird euch einmal fehlen.“
Das Mädchen mochte auch kein Brot. Es wünschte sich in den Hof zu der Hündin Senta, dachte daran, in die Hundehütte hineinzukriechen, was strengstens verboten, aber doch manchmal gelungen und ein Glücksmoment gewesen war: die Decke noch warm von Senta und diese vor der Hütte hechelnd. Das Hundehecheln wirkte gegen die Steinstimmen des Hauses und deshalb versuchte das Mädchen abends, wenn es im Bett lag, zu hecheln wie Senta, gegen die Figuren an den Wänden, die Tapetenfiguren, die tagsüber steif da standen und sich abends bewegten und redeten. Sie sprachen wie Menschen, die das Mädchen nicht kannte, redeten so, dass man sie nicht genau verstand. Kein anderes Zimmer im Haus hatte eine Tapete mit Figuren.
Sieben Zimmer gab es in dem Haus mit einem Stockwerk über dem Erdgeschoss. Darunter der Keller, ein tiefer Keller mit einem Echo, in dem die Kartoffeln in einer Holzstiege lagen, die Würste nach dem Schlachttag aufgehängt wurden und das Eingekochte in den Regalen stand. Denn kein Platz war mehr da für den Hunger. Nicht im Herbst und nicht im Winter.
Die Wintertage hatten keine Macht im Haus. Von Dezember bis Februar streiften sie durch die Räume, blieben wie Katzen auf den Fensterbänken sitzen, rutschten aber bald in den Keller, wo sie langsam verschwanden, ohne dass man es merkte, denn dort musste immer ein Licht angezündet werden, auch in den langen Sommertagen.
Die Großmutter ging am häufigsten in den Keller.
„Ich gehe in meine Jugend“, sagte sie, „ich sehe noch die Erde, die dort lag.“ Länger als alle anderen blieb sie unten. Einmal schickten sie das Mädchen, um nach ihr zu schauen. Es stieg die Stufen hinunter und sah die Großmutter auf einem umgedrehten Fass sitzen und vor sich hin singen. Still auf den Stufen zu warten, bis die Großmutter kam, das Mädchen an der Hand nahm, gemeinsam nach oben zu gehen, war ganz normal.
„Wen, zum Teufel, habt ihr da unten getroffen?“ fragte der Vater.
Die Häuser der Miwepa lagen an einer Weggabelung: schräg gegenüber vom Fabriktor bog ein kleinere Nebenstraße ab und führte hoch zu einem Berg, dem Rusteberg. Man hätte meinen können, es handle sich um eine alte Zollstation oder eine Pferdeschenke. Aber nichts davon stimmte. Nach dem 1. Weltkrieg hatte der Großvater das Gelände billig gekauft und andere aus der Familie waren nachgezogen, hatten auf beiden Seiten der Nebenstraße die fünf Häuser gebaut.
In einem davon wohnte die Schwester der Großmutter. Nur bei Schnee oder Regen saß sie nicht vor dem Haus und war mit einem Zeug (Stickzeug, Strickzeug, Flickzeug) oder dem Rosenkranz beschäftigt. Ihre Lippen bewegten sich, auch wenn sie Linsen zählte, Bohnen brach. Die Zeit lief ihr durch die Hände.
Gegenüber wohnte Paul Klingebiel, ein Cousin des Vaters. Er war der einzige, der regelmäßig in die Fabrik ging und Wellpappe holte, mit der er am Wochenende Spielzeug baute, meistens Schiffe oder Lastwagen für seinen Sohn. Die Schiffe waren aus grauer Wellpappe, die Lastwagen aus brauner, wobei die graue Wellpappe biegsamer war und angemalt werden konnte. Nur hielt die Farbe nicht lange. Sie platzte leicht ab und das Grau darunter kam zum Vorschein, so als hätten die Schiffe Schiffbruch erlitten, ohne dass sie jemals zur See gefahren waren.
Die schwarze Fahrt
Der Tag fing in tiefer Nacht in der einen Welt an und hörte im Sommerlicht der anderen Welt auf. Es war, als ob ein Handschuh umgestülpt wurde: sie trugen ihn mit den Nähten nach außen und er schien, obgleich noch neu, schon alt…
Lange wurde die Flucht vorbereitet. Vom Vater seit mindestens einem Jahr in langsamen vorsichtigen Schritten bis zum großen Sprung. Der Vater wuchs dabei über sich hinaus und würde in einer riesigen Anstrengung nicht nur sich, sondern auch die drei Frauen herüberbringen, seine Mutter, seine Frau und seine Tochter. Frau und Mutter hatten indes die Sprache verloren. Der Gedanke an den bald kommenden Tag wirkte wie ein Pflaster, ein unsichtbares, aber deshalb nicht weniger wirksames Pflaster, eines, das die Lippen zuklebte, als wären sie zusammengenäht.
Nun ist es Nacht, das Mädchen in seinem Bett, ein kleines Licht brennt. Die Tapetenfiguren stehen still. Da öffnet sich auf einmal ein Vorhang und ein Zirkusdirektor zieht seinen Zylinder, winkt herüber und setzt ein Megaphon an: „Hereinspaziert, meine Damen und Herren, zu einem Spektakel, in dem die abenteuerliche Flucht einer kleinen Familie erzählt wird, Leute, die alles auf eine Karte setzen, kleine Mäuse, die sich wie Löwen aufführen. Kommen Sie, verehrtes Publikum, zum ersten Akt: die Abfahrt im Dunkeln, die schwarze Fahrt“.
Und schon rühren sich die Tapetenmenschen, als wollten sie aus der Wand springen, weil es unruhig im Haus ist. Da wird nicht getrampelt, werden nicht die Türen geschlagen. Nein, es ist eine heimliche Unruhe, die sich langsam ausbreitet, sie pocht in den Adern der Menschen, sie klopft an die Wände, sie dringt ein wie ein Hausschwamm.
Hoppla! Nun wird die Tür aufgemacht und herein kommt die Mutter, doch nicht als süße, liebe Frau. Sie trägt schon ein Dunkel im Gesicht, kann es schlecht verbergen. (Aber sag mir, Mütterchen, woher kommen deine kalten Arme?) Sie wartet nicht, bis das Mädchen wach wird, sie rüttelt es aus dem Schlaf und zieht es hoch, sie hört nicht auf seine Klagen. Sie läuft mit dem Kind in den Armen nach unten. Da rasseln die Tapetenmänner mit ihren Schwertern, da miauen die Holzstufen und beugen sich unter den schweren Schritten der Mutter. Und hoppla! schon geht die Küchentür auf: der Vater, die Großmutter, sie sitzen da in ihren Mänteln, die nur wenig die blanken Nerven schützen, sie sitzen da, elektrisiert und können nur schwer noch warten. (Aber sagt mir, warum tragt ihr in der Wohnung einen Mantel, warum seid ihr wie Fremde in diesem Haus?)
In der Küche ist es dunkel, denn über der Lampe hängt ein Tuch. Die Mutter stellt das Mädchen auf den Tisch direkt unter das Licht, ein warmer Schein, der in seiner Kopfhaut bleiben wird, wie ein Gruß aus dieser Welt. Und in diesem matten, nahen Licht zieht die Mutter das Mädchen an, schnell, schweigend. Die beiden anderen sitzen wie in Gedanken verloren. Die Großmutter starrt auf den Boden, nein, in den Boden hinein, durch ihn nach unten, als wollte ihr Blick in der Tiefe einen Anker finden.
„Wir fahren ans Meer“, flüstert die Mutter. (Aber warum hast du keine Meeresstimme, warum hast du nicht das Lächeln der Reise?)
Und ein klebriges Licht dehnt sich aus, bis es ausgeknipst wird und das Haus sich in eine schwarze Schachtel verwandelt.
„Aber meine lieben Herrschaften, bleiben sie sitzen, das ist nur der Anfang, der erste Akt, schon bewegen sich unsere Leute und fahren und fahren und finden sich nicht zurecht. Folgen Sie ihnen auf dieser wirren Reise, schauen Sie aus dem Fenster auf eine Landschaft, die sie noch nie gesehen haben, so klein und unscheinbar ist sie. Und schon geht’s weiter, schon öffnet sich der Vorhang wieder und da fängt der zweite Akt an: das Morgengrauen.“
Zwischen Nacht und Tag fährt ein Auto Richtung Berlin, streunt umher, wer darin sitzt, hat keinen Kompass. Jemand müsste eine Hand ausstrecken wie über einen Fluss, müsste den Fluss teilen, damit sie hinüberziehen könnten. Aber da ist kein Fluss und da ist keine Hand, nur Nebel im Morgengrauen, der sich nicht heben will. Und so fahren sie lange in die falsche Richtung, bis der Vater es merkt, bis die Unruhe zur kalten Gewissheit wird. Und dann anhalten, umdrehen und zurückfahren. Aber bitte alles gemessenen Tempos, obwohl die Unruhe die Herzen zerspringen lässt, obwohl sie Zeit verloren haben, gemessen, denn keiner darf es bemerken, keiner soll aus seinem Schlaf gerissen werden. Da ist ein Graben, in den sie fast gerutscht wären, ein Baum, gegen den sie beinah fahren, denn was passiert, wenn es grau und dunkel ist, noch halbe Nacht. Da nickt man ein am Steuer, da schlafen auch die andern noch halb, so nah beieinander, so wenig Raum und Luft. Doch dann ein Schrei, halb erstickt, Bremsen quietschen. Das Mädchen weint, aber die Hand der Mutter liegt fest auf seinem Mund und Weinen ist von nun an verboten, da wird immer eine Hand auf dem Mund sein.
Das Auto bewegt sich weiter wie eine Ameise, langsam, stetig, tritt aus dem Grau hervor, wird größer, schwärzer, schneller, wird ein Hund, der läuft und läuft und bellen will, weil er raus kommt aus seiner Hütte, aus seinem engen Haus und will atmen und bellen, atmen, bellen. Doch Senta, die Hündin Senta, bellt nicht, läuft nur, keucht. Die drinnen im Auto halten die Luft an, schlucken hinunter, was sie auf der Zunge haben, was sie mitnehmen, sehen, was sie lassen.
„Da sitzen Sie nun, verehrtes Publikum, und können es nicht glauben, doch es geht weiter, es geht gleich weiter, werden Sie nur nicht unruhig, denn bald kommen unsere Leutchen an ihr erstes Ziel, ja sie sind schon da. Schauen Sie, lehnen Sie sich zurück und lassen Sie Ihren Blick über den weiten Platz schweifen, den Alexanderplatz, denn nun kommt Bewegung, die Passage in S., unser dritter Akt.“
Auf dem Bahnsteig der Haltestelle Alexanderplatz stehen die vier und warten. Soldaten stehen auch da, bewachen, beobachten, sortieren, fragen, führen ab oder schauen weg, drehen sich um, tun als ob. Die vier stehen da, als kennten sie sich nicht, das Mädchen an der Hand der Alten weiß nicht, warum sie nichts sagen, warum sie da stehen im Strudel der einund aussteigenden Menschen, die zurück kommen oder auf die andere Seite fahren, denn noch konnte man fahren, konnte man passieren mit einem Schein, versteht sich.
Da sind die Eltern auf einmal nicht mehr da, nur die Alte steht aufrecht und bewegt sich nicht, wie versteinert. Wenn es keine Tränen mehr geben darf, dann auch keine Angst. Wir müssen doch mit, wir dürfen nicht warten. Schon dreht sich sein Soldat um und schaut, kommt ein Zug, nimmt das Mädchen die Alte an der Hand und zieht sie in die S-Bahn hinein. Sie sitzen auf der Holzbank, die Alte sagt kein Wort, schaut aus dem Fenster, sieht zurück, merkt nicht, wie das Mädchen gewachsen ist.
Eine Tasche steht neben dem Mädchen, eine Kindertasche rot-weiß gestreift, die nicht aufgemacht werden darf, weil sie voller Geld ist. Aber das weiß das Mädchen nicht, sieht die Tasche, voll und prall, doch leicht wie Blech. Denn diese Münzen, die dort auf dem Gleis noch etwas wert waren, verwandeln sich, sobald sich die S-Bahn in Bewegung setzt, werden weniger mit jedem Meter, sind bei der Ankunft das, was sie dann immer sein werden: das Spielgeld des Mädchens in den nächsten Jahren, das verschenkt wird, verteilt an die, die mitspielen und so was noch nicht gesehen haben, so ein Geld, das leicht ist und doch einmal schwer wog.
„Ja, mein liebes Publikum, so etwas möchten wir nicht bei uns haben, zu leichte Münzen, die nichts mehr wert sind, wenn wir sie aus der Tasche ziehen. Aber keine Angst, hier bekommen Sie etwas für Ihr Geld, hier wird Ihnen was geboten, denn wir nähern uns dem Höhepunkt. Letzter Vorhang: Ankunft in den Wolken.“
Da sitzen nun die kleinen Leute und schweben durch die Lüfte. Lange wird es dauern, bis sie wieder mal in einem Flugzeug sitzen. Und dann verdichten sich die Wolken, die sie jetzt durchqueren, über ihnen, werden grau, schwarz und wieder weiß, wenn sie angekommen sind, dort drüben, wo sie hinwollten.
Noch wissen die vier gar nicht, wie ihnen geschieht. Noch schweben sie und können es selber nicht glauben, dass dieser Tag, der so schwarz begonnen, sie nach oben ins Weiß katapultiert hat. In ein Weiß, das nicht durchsichtig ist, sondern dick und fest wie eine Schneewand.
Die kleine Straße
Die Straße, die von der Miwepa ins Dorf führte war steil und hatte zwei enge Kurven. Die erste nannten sie „das Knie des Teufels“, die zweite hatte keinen Namen, aber man hatte sich daran gewöhnt, sie „die über dem Knie des Teufels“ zu nennen oder einfach nur „überm Knie“. Im Dorf war man sich nicht einig, wie es heißen sollte, einige hatten sich dafür ausgesprochen, dass es nicht das Knie des Teufels war, sondern das Knie der Schwester des Teufels, so dass die zweite Kurve folgerichtig „die über dem Knie der Schwester“ heißen müsse.
Einmal wurde die Diskussion in der Dorfkneipe von der Stimme einer Frau unterbrochen.
„Hört auf, so zu reden“, hatte sie zu den Männern gesagt, als sie das Tablett mit den Bierflaschen auf den Tisch gestellt hatte. „Wo steht denn, dass der Teufel eine Schwester hatte? Wer hat euch das in den Kopf gesetzt? Ihr wisst doch, dass Worte vergiften können.“
„Was willst du, wir machen doch nur Spaß.“ Und mit ihren schwer gewordenen Zungen hatten sie sich beschwert, könne man denn keinen Spaß mehr machen, hieß es. In der Kneipe sprachen sie später nicht mehr laut über den Namen, zumindest nicht, wenn diese Frau an der Theke stand, die, die sie jetzt unter sich „die Schwester des Teufels“ nannten.
Diese Frau kam nicht aus dem Dorf. Sie kam aus der Stadt, wo sie einen aus dem Dorf kennengelernt hatte. Dann, während des Kriegs, hatte er sie ins Dorf geschickt. Es war einfacher dort mit den Kindern: keine Bombennächte und auf den Feldern seiner Familie war immer auch etwas für sie. Die Hälfte des Dorfs war Familie, die Straße im Dorf rollte sich um die Häuser, wie um einen Stammbaum.
Wir stiegen oft hoch ins Dorf, um diese Frau, die Mutter meiner Mutter zu besuchen, um einzukaufen oder zur Sonntagsmesse. Eins der ersten Häuser war das Elternhaus ihres Manns, ein Fachwerkhaus mit einem großen Hof, groß genug für Heuwagen und eine Kutsche, mit der die Familie in die Nachbardörfer fuhr, nach Rustenfelde oder Schachtebich, Hohengandern und Birkenfelde. Namen von Ortschaften, so klein, dass man sie nur mit der Lupe auf einer Landkarte finden kann und schnell vergisst. Dörfer, die ich nie kennengelernt habe, aber deren Namen mir vertraut im Ohr klingen, Namen, die eine Landschaft aussprechen, Felder, Hügel, Gräben, verwachsene Steineichen, Margeriten, Hasen, die sich gute Nacht sagen, quakende Frösche. Stille.
Das Wappen von Warth zeigt einen roten Hügel, eine weiße Burg, darüber ein blauer Himmel. Es sind die Farben, die ich anfasste, wenn ich die Kornund Mohnblumen im Garten pflückte. Die Farben standen auf der weißen Decke auf dem Tisch. Es ist ein Bild, das wie viele aussieht und es dauerte lange, bis ich es sah.
Im Haus der Familie wurden alle Hochzeiten der Familie gefeiert. Zehn davon sind im Album meiner Mutter dokumentiert, mit sechzehn Jahren hat sie die ersten Bilder eingeklebt, die letzten stammen aus dem Frühling 1961. Die Familiengesichter wandeln sich von Jahr zu Jahr, aber die Architektur der Bilder ist immer dieselbe: Aufstellung in vier Reihen, in der ersten sitzen die Kinder auf dem Boden, dann auf Stühlen die Eheleute, die Zeugen und die Eltern, in der zweiten die Geschwister, zuletzt, die entfernten Verwandten, die auf Stühlen stehen.
Im Hof wäre genug Platz für das ganze Dorf gewesen, das nichts anderes war als eine Ansammlung von Häusern auf dem Rusteberg. Die Burg, die Kirche, die Kneipe und der Lebensmittelladen, das waren die Fixpunkte im Dorf. Ging man nach dem Haus der Großeltern die Dorfstraße weiter, kam schon nach ein paar Schritten die Kneipe, die von der Mutter meiner Mutter während des Kriegs und danach betrieben wurde. Ihr Mann konnte auch später nur wenig mithelfen, er hatte doch einen Gehörschaden davongetragen.
Am Ende der Dorfstraße war die Kirche mit dem Friedhof. Es war der höchste Punkt und von dort aus konnte man den ganzen Hügel überblicken. Seit Jahrhunderten war es ein strategischer Punkt, von dem aus man an manchen Tagen weit ins Land sehen konnte. Über jede Grenze hinaus.
Die silbergraue Bärin
Das Auto war silbergrau, rund, schwer wie eine Bärin und mit zwei leuchtenden Augen. Auf der Rückbank versank man wie in einem Sofa.
Normalerweise stand es in der Scheune, hinter dem Motorrad. Damit fuhr der Mann lieber. Es war praktischer und unauffälliger. Das Auto war für die Familie. In diesen Jahren lebte der Mann nicht völlig als Vater, er lebte noch als Sohn und lange Zeit würde er als Sohn-Vater leben, würde am Tag hinund herschwanken und oft keinen Halt finden als Mann.
Im Jahr 1958 war es noch eine Ausnahme, ein Auto zu bekommen.
„Hör mal“, hatte der Autohändler wie zufällig zum Mann gesagt, „ich bekomme zwei Skoda Octavia. Willst du eine?“
„Warum nicht“, hatte der Mann geantwortet und dabei wie ein Sohn mit den Schultern gezuckt, als wäre das gar nichts, und genickt wie ein Vater. Der Händler hatte seine Philosophie: denen von der Partei ab und zu einen Streich spielen. Die waren wichtigtuerisch und hätten ihre Krallen sofort nach dem Auto ausgestreckt. Und dann womöglich nicht bezahlt. Aus politischen Erfordernissen. Er hatte genug davon. Ein Auto ist keine Politik.
Der Mann zahlte in bar, legte einen Umschlag mit Scheinen wie zufällig hin. Das Auto blieb nur zwei Stunden im Hof des Händlers. Der Mann fuhr direkt zur Scheune: Tür auf – Tür zu, eine Sache von zwei Minuten. Die Nachbarn standen hinter den Gardinen und dachten, der Mann müsse wohl seinen Frieden mit der Partei gemacht haben. Verständlich, man muss ja leben.
Die erste Reise in der silbergrauen Bärin brachte sie nach Rügen. Die Eltern sangen und das Mädchen lag im Bauch der Bärin und ließ sich schaukeln. Am Meer verwandelten sich die Eltern in Baumeister von Sandburgen, halbnackte Figuren, die grundlos lachten, verschwanden und das Mädchen in die Obhut anderer Sandburgenbauer ließen. Aber was machte das schon am Meer. Nach zwei Wochen schaukelte die Bärin zurück, langsam und gemütlich.
Nur bald gab es ein Problem, denn mit einer Bärin kann man nicht fliehen. Da brauchte man ein anderes Auto, irgendeins, Hauptsache unauffällig. So was ließ sich schon finden, nur wo hinstellen? Und was passiert mit der Bärin? Da braucht es einen Plan, langfristig und gut überlegt. Da braucht es auch die Hilfe von anderen, aber von solchen, die sich noch an ein anderes Leben erinnern, an eine andere Freiheit, eine Vergangenheit. Da kamen nicht viele in Frage, denn viele waren schon gegangen, wenige geblieben. Wenige mit wenig Hoffnung.
Die Alte hatte einen Cousin: Ernst. Auch der hatte genug. Er wohnte in Berlin und man beschloss, dass er nun alle vierzehn Tage zu Besuch kommen würde. Die Frau sei weg und er fühle sich allein, hieß es. Er kam mit seinem Auto, einem alten DKW, der keinem auffiel.
Aber nichts ist gratis. Und warum sollte der Ernst sein Auto verschenken. Der braucht keine Verwandten, der braucht Geld.
Die Bärin muss verschwinden. Es hätte schon wen gegeben, der sie sofort genommen hätte, auch ohne Fragen zu stellen. So ein Auto ist eine kleine Freiheit, eine Freiheit im Sessel, wie die vor dem Fernseher (Westsender). Aber kann man dem vertrauen? Alles musste im allerletzten Moment geschehen. Der Mann würde mit der Bärin zur Verabredung fahren, parken, das Geld nehmen (Schleuderpreis), fertig.
Wie der langsame Weg des Wassers zu den Wolken, so sollte die Flucht sein. Sich auflösen, zum Himmel verdunsten. Schon gleich nach der Hochzeit hatten sie daran gedacht. Aber dann starb der Alte. Da muss man in Fußstapfen treten. Und dann die Geburt des Mädchens. Da waren nun die Alte und das Kind. Also neu planen. Und da kommt das zweite Kind und stirbt. Jetzt ist man wie am Ende, wo man doch stark sein muss mit der Mutter, dem Kind und der Frau. Denn die wollte nicht mehrweg. Was soll man mitnehmen, was dalassen, wer kennt einen, wer vergisst einen? Nur mitteloder kurzfristig planen, flexibel und anpassungsfähig bleiben. Auch daran musste man sich gewöhnen: handeln, ohne zu sprechen, sprechen, ohne etwas zu sagen, zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken, besorgt sein und trotzdem schlafen, hören mit verschlossenen Ohren, nicht mehr in die Augen der anderen schauen, Geschichten erfinden, dem Bruder, der Schwägerin, den Neffen und Nichten, auch dem Kind Lügen auftischen, allein in der Scheune sitzen und den Kopf zwischen den Händen halten, die Lust verlieren, in der Kneipe ein Bier zu trinken, auf Briefe nur noch mit einer Postkarte und kurzem Gruß zu antworten: „Uns geht es gut. Liebe Grüße“.
So etwas war einem noch nicht geschehen. Anderen war es passiert, andere hatten gezittert. Das verstand man erst hinterher. Jetzt musste man wieder so tun als ob, aufpassen, die Ohren spitzen, Spuren verwischen.
Und dann die Nacht. Frühmorgens stiegen sie in den DKW, die Alte, das Kind, die Frau, der Mann und Ernst. Den Atem hielten sie an, als wäre es die Zeit. Die Alte zitterte selbst unter dem Winterund Sommermantel. Keiner schaute sich um, der letzte Blick war der in sich hinein.
Ernst war am Steuer, denn so schrieb es ja das Drehbuch vor: man fuhr zu Besuch nach Berlin, zu Ernst, der gekommen war, um sie abzuholen.
Und schon ging es in die falsche Richtung, in die entgegengesetzte Richtung, weil dichter Nebel herrschte. Wie die Zeit zwischen Nacht und Tag doch anders vergeht, sie wird zu Stein, sie wird zu Sand, zu Wasser, zu Staub, siebewegt sich immer anders. Die im Auto merkten es erst eine halbe Stunde später. Deshalb bremsen, umdrehen, weiterfahren. Immer Ruhe bewahren. Ruhe im wachsenden Licht, wo alles so deutlich an ihnen vorbeizieht, dass sie die Bilder immer vor Augen haben werden, wie eingeritzt in die Netzhaut werden sie alles überblenden.
In Berlin trennten sich ihre Wege. Wieder stand die Zeit nicht still, als sie sich verabschieden. Die Eltern, die Alte und das Kind, der Ernst. Sie machten sich getrennt auf den Weg. Die Eltern im Auto, die anderen im Bus. Der Vater parkte den DKW unter der Brücke am Alexanderplatz und ließ die Schlüssel stecken. Für einen, der den Mut hatte, sich das Auto zu nehmen.
Und als er Jahrzehnte später das erste Mal wieder am Alex steht, geht er zur Brücke und schaut nach, ob das Auto noch da steht. Und dann lacht er, kann nicht mehr aufhören zu lachen.
Aktion Kornblume
Nicht weit weg von der Miwepa gab es ein paar Felder mit Getreide und Kartoffeln, Wiesen mit Obstbäumen. Sie gehörten den Familien der Miwepa und wurden von der LPG bestellt. Es war nicht viel Land, aber zu viel, um abends oder samstags darauf zu arbeiten. In diesem Frühling hatten sie früh begonnen, man erwartete einen heißen Sommer.
Der Vater fuhr mehrmals nach Berlin, er brach samstagnachts auf und kam zur Messe um elf Uhr zurück. Er nahm das mit, was nützlich sein könnte, später. Er ließ es bei Verwandten in Biesdorf. Später hätte er es abgeholt.
„Fahr nie denselben Weg“, hatte ihm einer gesagt. „Es könnte derselbe Polizist am Kontrollposten stehen. Könnte Verdacht schöpfen.“
Man brauchte einen Passierschein, um nach Berlin zu kommen, besonders die, die aus dem Zonenrandgebiet kamen und die aus dem Fünf-Kilometer-Streifen erst recht. Fünf Kilometer entfernt von dem, was die Demarkationslinie hieß und den Ostsektor einkreiste, ein allmählich sich verdichtender Kreis, eine schwärzer werdende Linie.
Sie wohnten nicht weit von diesem Zonenrandgebiet, kamen schon schlecht raus und ebenso schlecht rein. Man hatte schon angefangen, Grenzen zu ziehen, nicht nur nach außen, es gab auch Grenzen nach innen. Und das heißt: man kann nicht fahren, kann nicht sprechen, nicht handeln, wie man will. Nur Berlin war noch eine offene Stadt, in der man leichter von einer Seite zur anderen passieren konnte Aber wer von außen kam, nicht nur vom Westen, brauchte einen Schein. Im Zug wurde oft kontrolliert („Wo wollen Sie hin?“, „Was machen Sie da?“,
„Machen Sie mal Ihre Tasche auf.“) und wer keine genaue Zieladresse angeben konnte, wurde zurück geschickt. Und wer rot wurde oder stotterte, war verdächtig. Man brauchte eine fertige Antwort, eine Lüge in der Tasche.
Besonders an dem Tag im April, an dem der Vater nicht allein losgefahren war. Neben ihm saß ein junge Frau, dunkle kurze Haare, Stupsnase, gerade neunzehn Jahre. Sie kannten sich gut, waren König und Königin gewesen und mit Glanz und Gloria durchs Dorf gezogen. Er hatte ein Zepter gehalten und sie Bonbons an die Kinder verteilt. Süß war das. Später musste er ihr die Krone aufs Haupt setzen, als sie ihr beim Lachen vom Kopf gerutschtwar. Karneval – und jetzt wollte sie nach drüben. Deshalb nahm er sie nach Berlin mit, war ja seine Schwägerin. Am Alex nahm sie die S-Bahn, in Charlottenburg wartete Georg, ihr Verlobter. Am andern Tag kam ein Telegramm:
„Mädchen geboren. Alle gesund“. Die Losung.
Als der Vater an einem der Sonntage zurückkam, sah er seine Felder immer noch unbestellt. Daneben grünte es schon, ein paar Blumen am Feldrand.
„Es wird Zeit“, dachte er.
Die ganze Woche über tat sich nichts. Keiner schien sich an seine Felder zu erinnern. Er rief bei der LPG an, keine Antwort. Mit jedem Tag, der verstrich, sah die Erde verlassener aus. So eingerahmt von den Feldern der anderen, schien sie ein trockener, harter Fleck.
„Es ist Zeit“, dachte er.
Nicht zuverlässige Leute sollten aus dem Randgebiet ins Zentrum der Republik, nach Sachsen versetzt werden. Das war schon einmal geschehen: 1958, „Aktion Ungeziefer“. Zwangsumsiedlungen: in wenigen Stunden die Sachen packen und dann brachte ein Lastwagen alles an einen anderen Ort. In aller Stille, wie Kriminelle wurden sie verschoben an einen Ort, wo niemand sie wollte. Wo man in Häuser von Leuten kam, die verschwunden waren. Klassenfeinde, deren Leben noch in den Zimmern atmete. Den Passierschein hatten sie ihm nicht verlängert. An dem Tag, als der Vater es erfuhr, begriff er das Orakel auf den Feldern. Da würden nur Kornblumen wachsen, die Äpfel würden herunterfallen und faulen, niemand würde mehr etwas von dieser Erde ernten. Das Orakel sagte: hau ab.
Ums Licht
Die Wohnung im Westen lag im Erdgeschoss und im Wohnzimmer musste immer das Licht brennen. Es hatte ein großes Fenster, aber davor lag der Balkon, und gerade der verschluckte das Licht. Das Dunkel schien sich tagsüber auf dem Balkon auszuruhen und schon am Nachmittag wieder genussvoll auszudehnen.
Zwischen dem Fenster und dem Ölofen am anderen Ende des Zimmer stand ein Tisch, an dem sie aßen, lasen, ausruhten. Darüber hing eine Lampe, und da sie warm und hell war, wurde sie Teil der Familie, schaute wohlwollend herab.
Sonntags gegen drei Uhr kamen die Tante und der Onkel, es gab Kaffee und Kuchen.
„Willst du noch ein Stück? Noch eine Tasse?“
Darauf gab es Nicken, Kopfschütteln oder ein Brummen, ein „so, so“, der Ton flaute ab bis zu einer Stille, in der alle um den Tisch saßen, den Kopf leicht geneigt wie im Gebet. Das Mädchen saß am Fenster in einem Ohrensessel zwischen Kissen und Decken und wartete.
Und dann begannen sie, wie jeden Sonntag, ihre Geschichten zu erzählen. Die Männer zeigten mit dem Finger die Entfernung von einem Dorf zum anderen, von Rustefelde nach Arenshausen bis Rohrberg, von Bornhagen über Birkenfelde nach Uder. Der Tisch wurde ein anderes Land, auf dem sie die Linien ihrer Geschichten nachzeichneten. Die Frauen nickten, hielten Strickzeug in den Händen, schauten manchmal auf, um etwas hinzuzufügen, meinten, es sei doch anders gewesen: „Aber da war doch noch der…“, „Und weißt du noch die…“, „Du hast vergessen, dass…“.
Es waren die alten, immer selben Geschichten, das Haus, die Schule, die Kirche, die Feste, die Freunde, Verwandten, der Friedhof, die Grenze, die Fluchten. Es kam nichts Neues hinzu. Nur im Alten konnte noch etwas Neues geschehen. Das Neue hier lohnte nicht, gelebt zu werden.
Dem Mädchen sagen die Namen der Menschen, um die es geht, nichts, auch nicht die Tage, die Jahre. Aber dort im Ohrensessel fängt es an, doppelt Buch zu führen, die Geschichten anzuhören und die Abweichungen zu verzeichnen, die Stimmen zu unterschieden, den Chor manchmal sogar heimlich zu dirigieren. Es kennt die Geschichten bald besser als die anderen. Die vergessen das Mädchen. Und während es langsam dunkel wird, kommen sie unter dem Lichtstrahl zusammen, der sie in eine andere Welt führt, nach drüben, nur einen Meter vom Mädchen entfernt.
Heringe
In der Küche roch es oft nach Heringen. Die hatte die Großmutter gekauft, weil freitags Fisch gegessen wurde. Fisch essen hieß Heringe essen, Heringe auf jede Art: grüne Heringe, Räucherheringe, Bratheringen, Rollmöpse, Salzheringe.
„Ich hab’ was Besonderes vorbereitet“, sagte die Großmutter jedes Mal, wenn sie Heringe gekauft hatte. Der Teller mit den Heringen, die frischen Zwiebelringe und die Apfelstückchen neben den Pellkartoffeln stand vor dem Mädchen. Es schluckte seinen Hunger herunter und begann, alles in kleine Stückchen zu schneiden, in immer noch kleinere und noch weiter, bis man nicht mehr erkennen konnte, was da auf dem Teller lag. Es versuchte so zu tun, als sei da irgendein anderes Essen auf dem Teller, wenn nur nicht dieser Geruch gewesen wäre. Doch die Spielregel war, dass das Mädchen schließlich doch ein paar Gabeln voll gegessen hätte und die Großmutter den Rest. Nur in ganz kritischen Augenblicken hätte das Mädchen das nicht fertig gebracht und die Großmutter hätte aus dem Küchenschrank eine Flasche Lebertran geholt und ihm zwei Löffel verabreicht. Um das Wachstum zu fördern. Im Vergleich zum Lebertran waren Heringe das kleinere Übel.
Wer nicht den geringsten Anflug von Heringsgeruch ertrug war die Mutter. Kaum kam sie nach Hause und merkte es, öffnete sie das Küchenfenster. Es war als führte der Heringsgeruch sie direkt zurück in die HO-Verkaufsstelle, die sie geleitet hatte, seitdem sie siebzehn Jahre alt war, der einzige Laden im Dorf, breite Standardregale, Regale, die in ihrem Laden selten voll waren und wenn, dann für kurze Zeit von nur einem Produkt. Eine Woche lang gab es Mehl, eine andere Kartoffeln, dann wieder nur Kerzen oder Schnürsenkel. Ein Überangebot an Schnürsenkel und ein Unterangebot an Mehl und so weiter. Deshalb wurde gekauft, was da war: auf Vorrat. Man brauchte gerade keine Schnürsenkel, aber man konnte ja nicht wissen und deswegen wurden sie gekauft, schnell und soviel wie möglich. Man kannte das noch, Hamsterkäufe hieß das.
Anfang Juni kamen von der Ostsee frische Heringe, schnell zu verkaufen, weil es in einem HO-Laden in einem verlorenen Ort in der gerade gegründeten DDR weder Kühlschrank noch Eis gab. Heringe, wenn sie nicht ganz
frisch sind, entwickeln einen starken Geruch. Aber selbst bei lächerlichen Preisen konnte die Frau sie nicht loswerden, denn es hab eine verbissene Konkurrenz im Dorf: ihre zukünftige Schwiegermutter.
Die Großmutter bekam jedes Jahr ein Fass Heringe aus Norwegen. Sie wurden von der Familie Roebeberg aus Drammen geschickt. Es waren Holzfässer, die mit Aluminiumringen zusammengehalten wurden und drinnen lagen siebzig Salzheringe. Das erste Fass kam 1947. Eigentlich hatten die Roebebergs schon 1946 eins geschickt, aber ohne genaue Adresse, nur der Name des Großvaters und der des Dorfs hatte auf dem Fass gestanden.
Der Großvater war bei den Roebebergs als Kapitän der Wehrmacht einquartiert und hatte sich als Liebhaber Norwegens erwiesen. Sicher, da half wohl auch sein Name, der ganz und gar norwegisch klang. Und dadurch hatte der Großvater seine norwegischen Wurzeln entdeckt und als er das einzige Mal auf Fronturlaub kam, brachte er auch Räucherlachs und Pelzkragen mit. Der Lachs wurde in einem Riesenschmaus in der Miwepa verzehrt. Niemand hatte schon einmal Räucherlachs gegessen, alle kannten nur den Schnitzellachs, die kleinen rot gefärbten Kabeljaustückchen. Und nach diesem Essen erhofften sich alle Delikatessen aus Norwegen. Auch die Heringe von dort mussten etwas ganz Besonderes sein. Die Großmutter verschenkte sie gern, denn es waren auch für sie zu viele.
Deswegen wollte keiner die Heringe aus dem HO. Die Heringe aus Norwegen waren besser wegen der Reise, eine Reise, von der alle nur träumen konnten: die Heringe hatten die Nordsee überquert und dann Dänemark und halb Deutschland.
Irgendwann mussten die Heringe aus dem HO verschwinden. Die Frau schloss die HO -Verkaufsstelle und stieg in die Steinschlucht, eine Klamm nicht weit vom Dorf hinter einer der beiden engen Kurven, die die Straße von der Miwepa zum Dorf machte. Die Steineschlucht verwandelte sich langsam in ein Heringsgrab.
Die Frau verabscheute diese Abendstunden, wenn sie den Eimer mit den riechenden Heringen nehmen, zur Steinschlucht gehen und ein Loch in den harten Boden voller Gesteinsbrocken graben musste. Sie hätte gern einen Stein nach all denen geworfen, die sich einen Salzhering bei der geholt hatten, die damals noch nicht ihre Schwiegermutter war. Sie hätte niemals gewollt, dass gerade diese Frau ihre Schwiegermutter werden sollte.
Doch das Heringsfass kam nicht für immer. Es kam nicht im Westen an. Vielleicht hatten sie die Adresse der Roebebergs zusammen mit allem anderen dort gelassen. Vielleicht dachten die Roebebergs, dass Heringe irgendwann nicht mehr nötig waren.
Doch die Frau öffnete freitags immer das Küchenfenster, auch wenn es keine Heringe gegeben hatte. Ihre Hände würden immer noch nach Hering riechen.
Biografia: Eva-Maria Thüne
Geboren 1956 in Heiligenstadt, veröffentlicht sie (unter dem Namen „Eva Taylor“) Lyrik und Prosa auf Deutsch und Italienisch und unterrichtet Deutsche Sprachwisschenschaft an der Universität Bologna.
Sie hat vier Lyrikbände publiziert: ihren Debütband auf Italienisch L’igiene della bocca, (2006, Edizioni l’Obliquo, Brescia), gefolgt von Volti di parole 2010 im selben Verlag. Bei dem niederländischen Verleger Eric van der Wal ist 2008 der deutsche Gedichtband Aus dem Schneebuch erschienen; danach, im Jahr 2010 Gartenarbeit (bei der San Marco Handpresse).
Deutsche und italienische Zeitschriften und Anthologien haben ihre Prosatexte veröffentlicht, 2015 erschien ihr Roman Carta da zucchero (Fernandel). Mehrfach wurden ihre Gedichte und Prosatexte ausgezeichnet.
Im Jahr 2008 war sie Poetry Fellow der Bogliasco Foundation (Genua).
Sie hat auch Erfahrung mit dem literarischen Übersetzen: aus dem Italienischen ins Deutsche hat sie Gedichte von Elisa Biagini und von Anna Maria Carpi übersetzt, aus dem Deutschen ins Italienische Texte der Schriftstellerin und Malerin Unica Zürn; Gedichte von Uljana Wolf, Nora Gomringer, Yüksel Pazarkaya, Zehra Çırak und Hasan Özdemir.
Sie gehört zur Compagnia delle poete.
Premio letterario Merano-Europa 2015
COMITATO ORGANIZZATORE - ORGANISATIONSKOMITEE
- Enzo Coco - Presidente del Passirio Club
- Aldo Mazza - Alpha Beta
- Ferruccio delle Cave - Südtiroler Künstlerbun
- Giuseppe Fornasier - Segretario del Passirio Club Merano
- Paolo Valente - Referente giurie