- Premio letterario Merano Europa – Tredicesima edizione 2019
- I vincitori della 13^ edizione – Die Sieger der 13. Ausgabe
- Tina Caramanico – Narrativa in italiano – Italienische Erzählprosa
- Hugo Ramnek – Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa
- Finalisti: gli autori e le opere – Finalist-innen Autoren und Werke
- Ivana Gini – Narrativa in italiano – Italienische Erzählprosa
- Fabrizio Tumolillo – Narrativa in italiano – Italienische Erzählprosa
- Maximilian Gasser – Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa 2019
- Barbara Pumhosel – Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa 2019
- Giuria 2019 – Jury 2019
- Bando 2019
- Ausschreibung 2019
- Traduzione dall’italiano al tedesco 2019
- Traduzione dal tedesco all’italiano 2019
Premio Letterario Internazionale Merano-Europa – Tredicesima Edizione – 2019
Internationaler Literaturpreis Merano Europa 13. Ausgabe 2019
Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa 2019
Finalist
Maximilian Gasser
Der Stumme Fisch
Download PDF Gasser Der Stumme Fisch
Abschnitt 1
Ich öffne das Fenster, strecke den Kopf hinaus. Der Fahrtwind verzieht mir meine Lippen, ohne dass ich es möchte, zu einem Lächeln. Unter mir reiben Stahlräder auf Schienen, vor mir ziehen hinter Gipfeln fremde Hori zonte vorbei.
Das Lächeln fällt schnell von meinem hässlichen Ge sicht, als ich das Fenster wieder schließe. Vor mir im Ab teil sitzen meine Neuen, mein neuer Vater und meine neue Mutter. Beide haben auf ihre Gesichter ein Lächeln gelegt. Meine neue Mutter wirft es mir zu, ich werfe es zu Boden.
Ich bin 14 Jahre alt, frech, sagen sie, habe Pickel auf der Stirn und eine schiefe Nase, und meine Neuen haben eine schöne Haut, ganz anders als die meine: Ihrige ist ge sund, glatt, farbig wie Schinken. Nicht wie meine, die blass ist, pickelig und unrein, ganz und gar ungesund, über einem hässlichen Gesicht.
Wir sitzen im Abteil wie eine kleine Familie, die vom Einkauf heimkehrt. Heute in der Einkaufstüte – weil im Angebot: Ein neuer Sohn. Ganz frisch. Umtausch drei Wochen, originalverpackt, nur mit Rechnung. Für mich ist es die dritte Neue.
Im Heim meinte die Zuständige zu mir, ich würde es gut haben bei den Neuen. Ich würde es besser haben, schöner, heller. Ihre Augenbrauen zogen sich eng zusam men, als sie sagte, ich sollte dieses Mal doch bitte nicht weglaufen, dieses Mal doch bitte aufmerksam auf die Neuen horchen, gehorchen.
Während sie sprach, kratzte ich aus meinem Ohr gel be Schmiere, die nach Honig roch. Am letzten Tag trug sie meinen Koffer zur Tür und drückte mich zum Ab schied seit langem wieder fest. Sie lächelte, als würde sie sich freuen. Dabei sagte sie nicht, dass mich hier ohne hin niemand… wo ich doch ohnehin niemanden… und sagte es doch mit ihrem Lächeln, ehe sie mich entließ. Da war ich plötzlich ganz und gar allein, allein mit mei nen Neuen, und jetzt deren vorlautes, hässliches Pro blem. Mit nichts weiter als einem Koffer und im Bauch einen Luftballon.
Das verkrustete Blut an meinem Knie ähnelt Crème Brûlée. Es ist zwei Tage her, dass die Anderen im Heim mich in der Pause auf dem Hof schubsten und mein Knie auf Teer rieb. Sie riefen mir zu, dass sie mir bei meinem hässlichen Gesicht nur etwas Gutes tun würden, wenn sie mir in die Fresse… Daraufhin bogen meine Finger die ei nes Anderen. Ich bog seine Finger weit, er schrie, es knax
te. So wie Äste knaxen, wenn man durch den Wald geht, auf Waldboden tritt und vom Weg abkommt.
Heute ist von außen betrachtet alles schön, endlich. Ei ne nette, kleine Familie. Schöne Neue wurden mir zuge teilt. Ich aber betrachte uns nicht von außen, sondern sitze drinnen, bin dabei, und wie immer auch doch nicht ganz, spüre den Luftballon in meinem Bauch und atme schwer.
Unser Zug durchquert Täler, bald werden wir an der Küste sein. Da öffnet sich mit einem plötzlichen Ruck die Tür unseres Abteils. Graue Kordhosen setzen sich neben mich und der Geruch eines buckeligen, alten Mannes um schließt mich. Er trägt ein braunes Jackett und seine Haut ist rau wie Kiwi Schale. Seine kleinen Hände sind Teil ei nes schmächtigen
Körpers und faltig wie die Dolomiten. Sie halten ein großes Glas, darin schwimmt ein kleiner Fisch. Meine Neuen werfen dem Fisch ihr Lächeln zu. Der Fisch ant wortet nicht und zieht unbeeindruckt Kreise im Glas.
Die Augen des Alten verlieren sich, egal wohin sie bli cken. Ich bin ein vorlauter Junge mit einem hässlichen Gesicht und frage ihn das Offensichtliche, warum er denn einen Fisch mit sich trage, woraufhin er nur mür risch vor sich hinmurmelt. Ich verstehe ihn nicht, frage ihn nochmals nach dem Fisch, nochmals murmelt er. Er murrt unverständlich, wie ein Radiosender ohne Emp fang, während seine Hand mich wie eine nervöse Flosse abzuwimmeln versucht. Dann berührt mein Finger das Glas.
Der Fisch entdeckt mich, steht still, starrt mich an. Ganz langsam schwebt er dabei meinem Finger entgegen und bleibt immer noch stumm. Sachte winken seine Flos sen mir zu.
Es passiert ganz plötzlich: Abrupt und mit einem lau ten Pfeifen bremst der Zug. Ich falle und pralle auf die Schenkel meiner neuen Mutter. Im selben Moment höre ich das Krächzen des alten Mannes und kurz darauf split tert Glas. Jetzt hält er zwischen seinen Händen die Luft und der kleine Fisch tanzt zittrig auf dem Boden. Wäh rend sich der Zug wieder zögerlich in Bewegung setzt, tanzt der Fisch und hüpft lange, hüpft, ohne zu schreien, winkt mit aller Kraft. Er winkt, winkt schnell, tanzt uner müdlich, bis er endlich seinen Tanz beendet, kräftig at met, schließlich nicht mehr atmet, und sein Auge stur an die Decke starrt.
Ich setze mich und habe das Atmen fast vergessen. Das Murren des Alten ist verstummt. Mit den traurigsten Mundwinkeln der Welt suchen seine Augen für lange Mi nuten etwas im sturen
Auge des Fisches, während meine Neuen und ich re gungslos verharren. Schließlich greift der Alte nach sei nem kleinen, stillen Freund, dessen Augen weit aufgerissen bleiben. Behutsam hebt er den Fisch in seiner Handfläche hoch, führt ihn vorsichtig an seine Brust her an, ehe er den schlaffen Körper in seine Jacketttasche glei ten lässt.
Für die übrige Fahrt sitzt der Alte schweigend neben mir. Seine Augen krallen sich an den Scherben zu unseren
Füßen und verharren regungslos. Darunter hängen seine Augenringe tief wie kleine Monde.
Im Augenwinkel sehe ich seine Jacketttasche. Ich sei noch jung, vorlaut und frech, sagt man, und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll. Weder ich noch die Neuen wagen ein Wort zu sprechen.
Neben mir sitzt der Alte buckelig und mein Blick wan dert allmählich an ihm vorbei und durch die Fensterschei be hinaus. Dort werden Gipfel von weiten Landschaften abgelöst und allmählich ahnt man das Meer. Lange blei ben wir allesamt wortlos sitzen, bis wir schließlich einen Bahnhof erreichen und der Zug abermals zum Stehen kommt. Der Alte erhebt sich und seine Schuhe treten auf die Glassplitter am Boden. Wortlos und klein schiebt sich sein Buckel aus dem Abteil und aus dem Zug. Jenseits der Fensterscheibe geht er langsam und steif in sein Jackett gehüllt. Schleichend bewegt er sich zwischen den frem den Körpern auf dem Bahnsteig, seine Hand tief vergra ben in der Tasche, wo ich weiß, dass sein Fisch immer noch stumm liegt.
Ich tausche mit meinen Neuen kurze Blicke. Dabei treffe ich auf gesunde Gesichter, die mich an Schinken er innern und so ganz vollkommen und einfach auch irgend wie anders sind und anders bleiben als das meinige.
„Ich müsste mal“, sage ich, stehe auf und trete an die offene Tür des Zuges. Der salzige Geruch von Meerwas ser steigt mir in die Nase. Ich entdecke den Alten wie der, der sich von mir entfernt und sich vorsichtig seinen Weg zwischen den Körpern der Passanten sucht. Seine
schmalen Schultern hängen tief und ziehen seinen Kopf zu Boden.
Es sind nur drei Schritte aus dem Zug, ehe ich auf den Bahnsteig trete und merke, wie ich nicht stehenbleibe, nicht gehorche, nicht mache, was vielleicht auch gut wäre, sondern nur Fuß vor Fuß setze. Hinter mir höre ich, wie sich die Türen des Zuges wieder schließen. Vielleicht tref fen die erstaunten Blicke meiner Neuen gerade meinen Rücken, vielleicht auch nicht. Ich höre, wie sich hinter mir der Zug müde und schwer schnaufend in Bewegung setzt. Und ich ahne, dass meine Neuen gerade dabei sind, mein Leben schon wieder zu verlassen, dass sie schon wie der zu Fremden werden, und dass ich schon wieder an ei nem Ende bin.
Währenddessen spüre ich immer noch den Luftbal lon in meinem Magen, lasse mit schnellen Schritten et was hinter mir und dränge mich zwischen Körpern hindurch. Ich erreiche den Alten, gehe kurz hinter ihm, dann neben ihm. Als er mich bemerkt, nickt er mir kaum merklich kurz zu, vielleicht auch gar nicht, ehe er seinen Blick wieder zu Boden richtet, ohne stehenzubleiben. Sein Blick hüpft zwischen Pflastersteinen hin und her, während ich stumm und langsam an seiner Seite gehe und mich schließlich dazu entscheide, dass er nun fortan mein Neuer sein soll. Ich bin ohnehin am Ende und gehe mit ihm.
Abschnitt 2
Meine Beine sind ungeduldig, möchten rennen und der Alte ist mir zu langsam. Nebeneinander treten wir auf Pflastersteinen Gassen zwischen Häusern entlang, die Luft trägt Salzwasser durch den Ort und um uns herum gehen Menschen schneller als wir, eilig von hier nach da.
Der Alte atmet kräftig, braucht viel Luft. Und als sich zwischen den Falten auf seiner Stirn erste Schweißtrop fen sammeln, setzt er sich an ein Tischchen eines Cafés.
Ich folge ihm und wenig später fällt Zucker wie Schnee auf Milchhaut. Ich schlürfe meinen Kaffee unter meiner gebogenen Nase, die auf meinem hässlichen Ge sicht klebt und kleben bleibt. Wir sitzen auf einem schö nen Platz und schöne junge Menschen gehen an uns vorbei, ihre Schritte sind schnell und ihre Worte zahl reich. Der Alte ist immer noch alt und ich bemerke, dass sich in seiner geleerten Kaffeetasse ein schwarzes Loch gebildet hat.
Endlich frage ich den Alten, der klein und buckelig vor mir sitzt, wie er denn eigentlich hierhergekommen sei. Ich frage ihn auch nach seinem Fisch, der in seiner Tasche liegt, und nichts sagt, weil er tot ist, immer noch tot bleibt. Und ich frage ihn, warum man denn eigentlich einen toten Fisch mit sich in der Jacketttasche trägt.
Als ich fertig bin mit meinen Fragen, seufzt der Alte, blickt mich an. Tränen schimmern in tiefblauen Augen. Dann, endlich, beginnt er mit rauer Stimme davon zu er zählen, wie alles begann.
Er erzählt davon, wie er gestern noch auf seinem Bett im Altersheim saß und den Fisch im Glas auf dem Fen sterbrett
beobachtete. Ein Jahr zuvor hatten die Zuständigen ihm diesen kleinen Fisch geschenkt und ihm gesagt, dass er ihn von nun an regelmäßig füttern müsste, dass er sonst sterben würde. Und er tat, wie man ihm sagte, tat auch sonst immer, wie ihm geheißen, und hat das Futter kein einziges Mal vergessen.
Er erzählt mir davon, wie gestern, kurz bevor alles be gann, noch Stille herrschte in seinem Einzelzimmer. Wie dort Bilderrahmen verstaubte Bilder festhielten und wie Regen leise auf Fensterglas klopfte. Es war einer jener wertvollen Tage, an denen noch klare Gedanken möglich waren, gar ein wahres Gewitter in seinem Kopf herrschte. Tage, die für ihn immer seltener geworden waren.
Gestern war ein Tag, meint er, während ich an den Pi ckeln auf meiner Stirn kratze, an dem er sich Fragen stell te, wie: Warum ausgerechnet hier und nicht irgendwo anders… und überhaupt: Warum eigentlich nicht ein ganz anderes Leben, eines, wo er vielleicht mehr er selbst und weniger die Anderen… Gefährliche Gedanken kreisten gestern in seinem Kopf. Gedanken auch daran, dass er einmal jung gewesen war, dass es auch Zeiten oh ne Grenzen gegeben hätte. Zeiten, in denen er noch grenzenlos träumen konnte und jeden Tag alles sein und alles werden.
Kurz blickt er mich an und sagt in einem Nebensatz, dass ich noch jung sei, jung und frei, und dass es für mich
noch nicht zu spät wäre. Ehe er fortfährt und mir erzählt, dass er damals, als alles begann, allein auf seinem Bett saß und angestrengt nachdachte, gefangen in seinem alten Körper, für den ohnehin alles schon längst zu spät war, viel zu spät. Er dachte und dachte und schaute während dessen dem Fisch im
Glas auf dem Fensterbrett dabei zu, wie dieser uner müdlich und stur seine Runden im viel zu kleinen Glas zog. Wie er mit seiner Nase immer wieder gegen die un sichtbare Grenze stieß, die ihn vom Rest der Welt trennte. Der Fisch stieß gegen das Glas, setzte sich wieder in Be wegung, zog seine Runden, kreiste beharrlich weiter, ehe seine Nase abermals gegen das Glas klopfte. Hin und wie der schnappte er nach Luft und durchbrach dabei kurz die Wasserdecke. Dann blickte der Fisch für einen Au genblick mit großen Augen an die Decke des Zimmers, ehe er wieder zurückmusste, weil er in dieser Welt nicht bleiben durfte, weil er nicht hierhergehörte. So setzte er seine Runden wieder fort, von Neuem gefangen zwischen unsichtbaren Grenzen. Ausgesperrt von der Welt war er nie irgendwo anders gewesen als in seiner Winzigen.
Gestern drehten der Fisch im Glas und die Gedanken des Alten Kreise, ehe sein inneres Auge schließlich deut lich sah. Er stand endlich auf und klare Gedanken erlaub ten keinen Schritt mehr zurück. Der Alte berichtet mir davon, wie er nach dem Glas mit dem Fisch griff und be schloss, seinen Freund mit sich zu nehmen.
Jetzt krümmt der Alte seinen Buckel noch stärker, als er sich zu mir vor und über seine Kaffeetasse lehnt. Es war
schließlich, so meint er zu mir, nichts weiter als eine einfa che, kurze Frage, mit der alles begann. Zum ersten Mal fragte er sich gestern nämlich, ob der Fisch eigentlich je vom Meer geträumt hätte. Ob er denn wüsste, dass Was ser auch weit, gefährlich und grenzenlos sein könnte.
So kam es, dass er gestern das Altersheim verließ, zwi schen seinen Händen den Fisch im Glas. Er schlich auf müden, alten Beinen an einem unaufmerksamen Pfleger vorbei, stieg in den
Zug und machte sich auf den Weg. Um seinem Fisch das Meer zu zeigen. Und genau so sei er nun hierherge kommen: Ans Meer.
Abschnitt 3
Der Alte ist wieder verstummt. Noch immer sitzen wir am Platz. Ich blicke auf seine Jacketttasche und denke an den Fisch, der dort immer noch liegt, ebenso stumm ist und immer noch tot bleibt.
Als wir schließlich aufstehen, gehe ich wieder neben dem Alten. Und dieser geht vorsichtig auf Beinen die steif sind wie Stelzen. Wenn ich jetzt neben ihm gehe, ah ne ich die Last, die sich jahrelang angesammelt hat, sei nen Buckel formte und auf seine Schultern presst. Ich sehe aber auch die Überreste jener Kraft, die seine alten Glieder über die vielen Jahre getragen hat, die Zeit über dauert hat und ihn immer noch widerspenstig und zäh vorwärtsträgt.
Wieder gehen wir in Gassen langsam. Langsam, aber ohne, dass es mich stören würde. Wir gehen und die Fremden um uns gehen schnell, folgen einem Takt, den wir nicht kennen. Sie treten mit schönen Schuhen und schönen Gesichtern gehetzt auf Pflastersteine.
Wir gehen weiter und vorbei an Schaufenstern leerer Geschäfte, dahinter einzelne Gesichter, die auf etwas war ten. Sie blicken durch Schaufenster hinaus, müssen aber noch bleiben wo sie sind, weil es noch nicht soweit ist. Ich ahne, dass in ihren Köpfen Gedanken Kreise drehen, schon lange endlose Runden.
Und ich ahne auch, dass einige im Vorbeigehen mein hässliches Gesicht betrachten, dabei Gedanken denken. Und trotzdem gehe ich weiter, setze Fuß vor Fuß, auch wenn die verkrustete Wunde an meinem Knie juckt.
Menschen gehen zügig an uns vorbei und sprechen in ihre Hände, telefonieren, sprechen schnell. Sprechen laut, sehr
laut, und ich stelle mir vor, wie sie vielleicht alle im Kreis laufen, ohne es zu merken und ohne Unterlass.
Allmählich beginnt die Luft noch stärker nach Salz zu schmecken. Schließlich am Strand angekommen fügen sich Sandkörner warm zwischen meine Zehen. Laut ächzt der Alte, als seine nackten Füße im Wasser stehen. Dann blickt er lange in Richtung Horizont, mit leerem Blick. Ich finde Muscheln und werfe sie über das ruhige Wasser. Sie hüpfen: Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Dann sehe ich, wie der Alte tiefer ins Meer schreitet und seine Kord hosen Salzwasser schlucken.
Er schreitet ins Meer, bis ihm das Wasser bis zur Hüfte reicht. Er zieht den Fisch aus seiner Tasche und betrach tet ihn in seiner Handfläche. Dann, in einer schnellen, fast hastigen Bewegung, wirft er seinen toten Freund einige Meter weit ins Meer. Für den Fisch kommt das Meer oh nehin zu spät, der Alte bleibt ohne Worte.
Als ich schon glaube, er würde nun ans Ufer zurück kehren, lässt er sich plötzlich ganz fallen, fällt ins Wasser und das Wasser spritzt hoch. Langestreckt schaufelt er jetzt mit langen Armen das Wasser beiseite und schwimmt hinaus, den Kopf unter der Oberfläche, auf der anderen Seite. Für eine Weile sehe ich noch seinen Buckel im braunen Jackett auf dem Wasser schwimmen. Bis ich schließlich auch diesen nicht mehr erkennen kann, er die Grenze des Wassers ganz hinter sich lässt und das Meer ihn vollkommen verschluckt.
Er verschwindet auf einer anderen Seite, wo es keiner Worte bedarf, gleitet stumm durch gebrochenes Licht, stillen, weiten Wassern entgegen.
Ich werfe keine Muscheln mehr, bleibe stumm, schaue dabei
zu, wie die Wellen jegliche Spur des Alten verwischen. Später gehe ich abermals über die Pflastersteine des Ortes, allein. Ich gehe weiter, trotz der juckenden Wunde am Knie und trotz meines verzerrten Gesichts, auf das fremde Augen gerne blicken. Dabei setze ich Fuß vor Fuß vor Fuß und gehe vorbei an denselben Schaufenstern von vorhin: Gefangen hinter unsichtbaren Grenzen drehen
fremde Gedanken dort immer noch Kreise.
Und wie ich weitergehe, immerzu Fuß vor Fuß, weiß ich um das Meer, das unter der Wasseroberfläche Ge heimnisse und Welten versteckt und sich weit erstreckt, bis der Horizont es schließlich abschneidet, seltsam gera de, fast plötzlich bedeckt.
Ich bleibe der einzige Zeuge davon, wie der Alte am Ende war, Grenzen durchbrach und jetzt endlich stumm und frei schweben kann. Doch noch frei, vielleicht.
Mir bleibt jetzt nichts, als einen neuen Anfang zu su chen, meinen ganz eigenen, jung, vorlaut und mit Crème Brûlée am Knie. Den Anfang jenes Fadens, der sich folg lich wirr durch mein Leben ziehen wird und dabei hof fentlich nicht zu viele Kreise dreht. Der Anfang eines Lebens, das sich hinter unsichtbaren Grenzen auch ge fährlich und weit erstrecken kann, ehe es plötzlich abge schnitten wird, seltsam gerade.
Maximilian Gasser, Studium der Philosophie und Ökono mie in Rotterdam, mit besonderem Interesse für Fragen der Moralität, sowie für interdisziplinäre Fragen an der Schnittstelle zwischen Kultur und Ökonomie.
Teilnahme an der Bayerischen Akademie des Schreibens 2019, organisiert vom Literaturhaus München. Regelmä ßige Teilnahme an verschiedenen Schreibwerkstätten in Wien und München, organisiert von Studenten auf frei williger Basis. Er stand 2019 auf der Longlist des Walter
KempowskiLiteraturpreises (Förderpreis der Hamburger Autorenvereinigung). Vollstipendium für das Europäische Forum Alpbach 2018. Er ist Mitglied der Jugendjury des Concorso Cineasti del Presente des Locarno Filmfestivals 2018.
Insgesamt zeichnet sich seine literarische Tätigkeit v.a. durch ein kontinuierliches Arbeiten an den Texten, sowie durch den beständigen Austausch mit anderen Schreiben den aus. Diese kontinuierliche Arbeit wurde durch die verschiedenen Stationen in seinem bisherigen Werdegang, Erfahrungen und durch den daraus resultierenden Vorsatz der Neugierde und Empathie wesentlich beeinflusst.