- Premio letterario Merano Europa – Tredicesima edizione 2019
- I vincitori della 13^ edizione – Die Sieger der 13. Ausgabe
- Tina Caramanico – Narrativa in italiano – Italienische Erzählprosa
- Hugo Ramnek – Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa
- Finalisti: gli autori e le opere – Finalist-innen Autoren und Werke
- Ivana Gini – Narrativa in italiano – Italienische Erzählprosa
- Fabrizio Tumolillo – Narrativa in italiano – Italienische Erzählprosa
- Maximilian Gasser – Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa 2019
- Barbara Pumhosel – Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa 2019
- Giuria 2019 – Jury 2019
- Bando 2019
- Ausschreibung 2019
- Traduzione dall’italiano al tedesco 2019
- Traduzione dal tedesco all’italiano 2019
Premio Letterario Internazionale Merano-Europa – Tredicesima Edizione – 2019
Internationaler Literaturpreis Merano Europa 13. Ausgabe 2019
Narrativa in tedesco – Deutsche Erzählprosa 2019
Finalistin
Barbara Pumhösel
Das Traumtagebuch
Download PDF Pumhösel Das Traumtagebuch
Die neue Patientin kommt eine Viertelstunde zu spät. Er ist ungehalten, stellt klar, dass die Therapie nur unter Be rücksichtigung gewisser Regeln und Einhaltung eines Ba sisabkommens fortgeführt werden könne. Sie sieht ihn angestrengt an, als versuche sie, dem Sinn des Gesagten nachzuspüren, er liest in ihren Blick auch eine wortlose Frage, eine Rüge: so als wäre der Weg zu ihm mit den größten Schwierigkeiten gepflastert, und sie hätte sich Lob erwartet – dafür, dass sie es geschafft hat, nicht ganz recht zeitig zwar, aber immerhin, sie ist hier. Und einen Zweifel: wie soll er, ihr Gegenüber, den Rest, wie soll er sie verste hen, wenn es schon beim Start Missverständnisse gibt.
Sie spricht langsam, mit langen Pausen, schweigt mit dem Blick auf den Boden, suchend, so als wären ihr ein paar wichtige Worte auf den Teppich vor seinem Schreib tisch gefallen. Sie sieht ihn nicht an, wenn sie spricht. Nur in den Pausen. Er beobachtet, wie sie an den Worten kaut, sie lange im Mund behält. Die Stimme zeigt keine Emotionen, keine Farbe. Es ist, als spräche sie über je
mand anderen. So als wäre die Distanz der Zoll, der ihr abverlangt wird, um überhaupt sprechen zu dürfen. Ihre Tränen stören das Bild, passen nicht zum Ton.
Er hatte bis jetzt noch nie Schwierigkeiten, sich ein er stes Bild von einem Patienten zu machen. Natürlich, in den darauffolgenden Sitzungen rückte er es zurecht, fügte Details ein. Aber dieses Mal streikt seine Vorstellungs kraft. Ist es die Müdigkeit, die Arbeit in der Klinik, die Zweigleisigkeit? Die Tatsache, dass er die sogenannten Gesunden, denen er im Alltag begegnet, mit immer mehr Skepsis, mehr Misstrauen betrachtet? Sich fragt, wie je mand den Hürdenlauf der Groteske, den die Gesellschaft fordert, meistert, ohne Symptome zu zeigen? Einfach wei ter tut, als wäre alles in Ordnung? Er fragt sich, welche Krankheiten seine Mitmenschen tief in ihrem Innern, in einem gepanzerten Kern tragen, und er fühlt unsichtbare Fäden, die ihn an etwas binden, was er nicht wahrhaben will, und die Knoten immer stärker zuziehen. Dabei sollte er jetzt sein volles Augenmerk auf seine Universitätskar riere richten, sich keine Unaufmerksamkeit erlauben.
Jetzt sitzt er ihr gegenüber, versucht wie immer, zu ver meiden, dass sich eine negative Atmosphäre ausbreitet, er will nicht, dass ein zu lange dauerndes Schweigen auf kommt, Patienten fühlen sich schnell unsicher, stellen wo möglich
unrealistische Vermutungen an, die dann riskieren, sich kontraproduktiv auf die Therapie auszuwirken. Di rekter Blickkontakt ist wichtig, aber gleichzeitig will er nicht den Eindruck erwecken, er starre sie an. Es gelingt
ihm nicht, das Bild aus dem Nebel zu holen – einen Au genblick vermeint er mehr zu sehen, doch die entspre chende Plastik vor seinem inneren Auge ist unscharf, so verschoben, dass er den Eindruck hat, er sähe zwei Per sonen.
Eines ihrer Basisprobleme sei die Kommunikation, stellt sie nach einer weiteren Pause fest. Sie gäbe sich Mü he, die richtigen Worte zu wählen, denke über jedes ein zelne nach, bevor sie es ausspricht, aber sie habe den Eindruck, es komme nicht an, es löse sich auf auf dem Weg zum Gegenüber, oder pralle ab an einer Art Schutz schild des Gesprächspartners. Er schlägt ihr eine prakti sche Aktivität vor: sie solle ihre Träume aufzeichnen, ein Traumtagebuch führen. Die Patientin zögert, wirkt ableh nend, denkt nach, eine vorsichtige Öffnung, jetzt ist sie unentschlossen. Sie träume nicht genug, sagt sie, und nur sinnlose Sachen, die sie sofort vergisst. Er insistiert. Es ist bereits der dritte der holprigen, für beide Seiten unbefrie digenden Termine – es muss etwas geschehen. Sie akzep tiert schließlich.
Die vierte Sitzung muss er wegen einer Tagung ver schieben, dann zeichnet sich eine geradezu erstaunliche Wendung ab. Die Patientin ist wie ausgewechselt. Sie be ginnt zögernd, mit ihren Unterlagen vor Augen, Sie tastet sich hinein in ihre Traumlandschaft: beginnt von von der Sonne aufgewärmten Tuffsteinen zu sprechen, die das Wasser levitiert haben muss, weil ihre Rundungen sanft sind, und auch in den kleinen Hohlräumen und Einbuch tungen die Ecken und Spitzen fehlen. Es ist, als würden
mit den ihren auch seine Finger darüber gleiten, ein Teil, der schattigere, ist bemoost, eine Mulde im Wald, ein Be cken aus Stein, dann der Regen, irgendwann muss er an Hänsel und Gretel denken, oder an Brüderchen und Schwesterchen, das Reh (wie geht das Märchen aus? Überlebt das Reh? Oder wird es von einer bösen Königin bei einem Festmahl serviert? War nicht das Herz eine Art Beweisstück?). Kurz denkt er sich, sie will ihn auf den Arm nehmen, sich mit Hilfe von Märchenvariationen auf ein Terrain begeben, in dem sie sich sicherer fühlt. Tat sächlich wird ihr Ton fester, bestimmter. Die sprachliche Distanz der ersten Termine ist wie weggeblasen. Es ist, als lebe sie ihre Träume noch einmal. Als beschwöre sie sie herauf – als Zuflucht, als Obdach. Er fühlt die Bilder wie eine Einladung. Will sie auch ihn über ihre Traumland schaft in seine Kindheit zurückziehen? Er zwingt sich, an die Distanz zu denken, die ihm seine berufliche Position abverlangt, denkt über das Wort neugierig nach. Es steckt Gier darin, Gier
zu wissen, wie es weitergeht, aber auch die, abgegrenz te Territorien zu betreten, nicht nur über den Zaun zu schauen. Ein Bild taucht in ihm auf, er, vorsichtig, aber überzeugt, mit nackten Füssen auf einer vom Morgentau feuchten Erde.
Der Traum vom Tod ihrer Mutter ist ein spannender Krimi. Kleine Zeichen, die sie nicht wahrnehmen will, Hinweise, Spuren, schließlich der Beweis, ihre einzige Tochter – sie lässt sachlich einfließen, dass sie keine Toch ter hat, obwohl sie im Traum echt war, und so lebendig hat ihre Mutter getötet, irrtümlich, eine Verwechslung, es hat sich so ergeben, eigentlich wollte sie nur unbeobach tet etwas suchen, sie hielt sie für einen Eindringling, fühl te sich angegriffen – es war eine Fatalität. Eine schreckliche Geschichte, verworren und doch klar, wie Träume oft sind, aber der Doktor kann nicht umhin, eine gewisse Erleichterung zu verspüren: die Zukunft, die die Vergangenheit bezwingt, über und bewältigt, die Zu kunft als Überlebende, er ist froh, dass die Patientin auch so direkte und einfach zu deutende Symbole träumt.
Er freut sich über die Richtung, die die Therapie nimmt, darüber dass sie sie ernst nimmt, nie ohne ihre Blätter erscheint, jede Seite mit einem Datum versehen, und er freut sich auch über einen Traum, in dem es um ei ne Geburt geht, die Geburt eines Kindes aus Eis, das so fort schmilzt. Seine Patientin schreibt sich ab und zu eines seiner Zitate auf, und baut seine Worte dann in ihre Fra gen ein, ungefähr, aus dem Gedächtnis zitierend: “Wenn Träume spontane Produkte der unbewussten Seele sind, wie Sie sagen, was soll dann dieser Traum bedeuten? Eine Geburt ohne Komplikationen, dessen Resultat sich selbst annulliert? Die unbewusste Seele will gemeinsam mit dem Körper produzieren, doch diesem fehlen die Vorausset zungen? Also gebiert er Fruchtwasser in festem Zustand. In einer dem Anlass angemessenen Form.“
„Die Tochter aus Eis ist eine Metapher, eine Art Linse, ein Zugang. Es wird unser Ausgangspunkt sein.“ Bei ihr wird er beginnen, durch sie, durch diese Traumgeburt, ih ren Fall aufrollen. Sie spricht von der Trauer, dem langsa
men aber unabwendbaren und sich immer weiter steigen dem Verlustgefühl, dem Sichauflösen des Kindes in kalte Wassertropfen. Er bringt die Schneekönigen ins Spiel, den Eissplitter im Herzen des kindlichen Protagonisten.
Im nächsten Traum geht es um ein spiralenartiges Doppellabyrinth, eines über der Erde und eines darunter, dazu Verfolger in schweren Schuhen. Er fängt an, sich Notizen zu machen. Eine Symmetrie, die nur auf den er sten Blick eine ist.
Schließlich beginnt demnächst seine Vortragsreihe am Institut für Tiefenpsychologie, und in seinen Unterlagen fehlen noch spannende Beispiele, so scheint ihm jetzt, Bil der, die nicht aufgewärmt wirken, neue Blickwinkel. Das Vertrauen in seine rhetorischen Fähigkeiten ist nicht mehr unbedingt. Manchmal verliert er den Faden, und manchmal wirkt die Lebendigkeit seines Vortrags artifi ziell, findet er. Er muss strenger sein mit sich selbst, etwas Neues sagen. Es wird ihm zur Gewohnheit, die Mappe mit den Abschriften des Traumtagebuchs dieser einen Pa tientin mit nach Hause zu nehmen.
Ihr scheint es mittlerweile besser zu gehen. Sie kommt fast immer rechtzeitig zu den Terminen, aber er versteht aus ihren Mitteilungen, dass diese Pünktlichkeit eine Ausnahme ist. Ihre Träume bringt sie in Reinschrift, fein säuberlich auf gelochtem Papier. Nie ist ein Wort ausge bessert oder durchgestrichen.
Schließlich beginnt sein Kurs. Nach den einleitenden und aufbauenden Vorträgen kommt er in der dritten Vor lesung auf die Praxis zu sprechen und stellt Beispiele aus
seinem Berufsleben, das heißt, Träume seiner Patientin vor. Er merkt den Unterschied in der Atmosphäre. Plötz lich hat er die Aufmerksamkeit des ganzen Saales für sich. Das Publikum hängt an seinen Lippen. Er ist mit sich, mit seiner Fähigkeit, die Anwesenden zu fesseln, sehr zufrie den und im Hinausgehen beschließt er, dem Fall von Ma rie W. ein Kapitel im seinem nächsten Lehrbuch zu widmen, zumal die Fortschritte in ihrer Therapie beacht lich sind.
Diesmal wartet vor seiner Sprechzimmertür eine junge Frau, die er noch nie gesehen hat. Sie hat sich nicht ange meldet. Er ordnet sie in seinem Kopf ein – Herkunft Na her Osten, Iran vielleicht, oder Syrien, wegen ihrer Hautfarbe und ihres bunten Foulards, der ihr dichtes dun kles Haar nur zum Teil verdeckt, aber auf eine fröhliche Art energiegeladen wirkt. Die Farben wiederholen sich wie Echos auf ihrem Kleid. Sie ist keine seiner Studentin nen. Er setzt innerlich zu einem Lächeln an, kommt aber nicht dazu, es nach außen zu transferieren. Bevor er etwas sagen kann, fragt sie „Woher haben Sie sie?“ und man merkt ihr an, dass sie ihre Stimme nur mühsam beherrscht.
„Habe ich was? Wovon sprechen Sie? Setzen Sie sich doch! Sie sind sehr aufgewühlt! Wie kann ich Ihnen hel fen?“
„Sparen Sie sich diese TherapieSpielchen doch für Ih re Vorlesungen!“
Er ist sprachlos.
„Sie haben meine Träume gestohlen!“ Eine Anklage, ohne Zweifel, obwohl sie ihre Stimme kaum hebt.
„Wir sind hier nicht in einem FantasyRoman. Beruhi gen Sie sich doch!“ Er versucht sich zu fassen, beginnt etwas väterlich, wie ihm selbst scheint, von den gemein samen grundsätzlichen Elementen im kollektiven archai schen Unbewussten, von individiumsübergreifenden Bildern im Gehirn zu sprechen.
„Ja, und“ setzt er fort, ändert jetzt den Ton, er soll pro fessionell und auch distanziert klingen „sowohl bei kom pensatorischen als auch präkognitiven Träumen …“ Sie sieht ihn mit großen Augen starr an, dann unterbricht sie ihn. „Sie lügen! Dass Sie das nötig haben. Verwenden Sie doch die Träume ihrer Patienten! Irgendetwas werden sie Ihnen ja wohl erzählen.“
Er hebt die Hände, öffnet den Mund, kann nicht um hin, festzustellen, dass ihr Akzent kaum hörbar ist, nur so viel, dass sich eine ganz eigene Wortmelodie in sei nem Ohr festsetzt. Sie lässt ihn nicht zu Wort kommen:
„Lassen Sie das! Was immer Sie auch sagen, es bleibt ei ne Unverschämtheit. Ich werde mit einem Rechtsanwalt wiederkommen. Diebstahl nennt sich so etwas! Das hat mit wissenschaftlichem Arbeiten nichts zu tun.“ Dann fährt sie mit eisiger Stimme fort: „Sie haben recht, es gibt gemeinsame Elemente, ein kollektives Unterbe wusstsein. Aber die Oberschenkel, zwischen denen das Baby nach seiner Geburt geschmolzen ist, das waren meine. Verstehen Sie! Meine Haut, mein Traum, mein Kind.“
Und dann, sehr leise „In eurem Land“. Oder hat er es sich eingebildet, dazugedacht?
Sie macht eine Pause, spricht dann in einer normalen Lautstärke weiter: „Und der Moment, in dem die Träu merin merkt, dass ihre Tochter ihre Mutter getötet hat, dass sie ein Glied ist, festhängt in der Kette zwischen Op fer und Täter.“ Er sieht sie überrascht an. Diesen Traum hat er in der Vorlesung noch nicht erwähnt.
„Ich schwöre ihnen, dass ich auf die Träume einer mei ner Patientinnen zurückgegriffen habe. Zumindest …“ Ei nen Atemzug lang überlegt er, wie er diesen unvollendeten Gedanken, der skizzenartig, wie mit ein paar Strichen, in seinem Kopf entstanden ist, in Worte fassen soll. Dann sagt er „Ich habe ihre schriftlichen Aufzeichnungen, ihr persönliches Traumtagebuch. Aber natürlich …“, er zö gert. „Es ging ihr eine Zeitlang sehr schlecht. Es könnte natürlich eine Abschrift sein. Eine persönliche Kopie. Ich werde mit ihr sprechen.“
Beim nächsten Termin mit der Patientin stellt er wei tere Fortschritte fest. Er lässt einen eventuell geeigneten Zeitpunkt nach dem anderen verstreichen, ohne sie auf die Herkunft der Traumerlebnisse anzusprechen. Es ist das erste Mal, dass es ihm nicht gelingt, zu verbalisieren, was er sich vorgenommen hat. Er schafft es nur, von ei ner allgemeinen ersten Bilanz zu sprechen, die sie ziehen sollten, von der Notwendigkeit, die tieferen Gründe ih rer Depression ins Auge zu fassen. Ihr Gesichtsausdruck ändert sich, er hat den Eindruck, als seien seine Worte aus Glas, als könne sie hindurchschauen und dahinter das sehen, was er wirklich sagen wollte. Aus Glas, oder aus Eis. Durchsichtig und gleichzeitig refraktär. Sie
spricht jetzt langsamer, vorsichtiger. Schon früher hat er den Eindruck gehabt, als könne ihre Haut die Stimmung aufnehmen, unausgesprochene Gedanken auffangen und sie entziffern. Sie klammert sich an ihre Ringmappe, als wär der Inhalt das einzige, was ihr noch bleibt, der einzige Grund zum Weiterleben. ‚Ich brauche eine Stra tegie. Einen Therapieplan. Sie hat sich diese Traumerin nerungen angeeignet, ist nunmehr überzeugt, dass es die ihren sind‘, entschuldigt er sich bei sich selbst für sein Zögern.
Ein paar Tage später informiert ihn sein Sekretär, dass die Patientin den nächsten Termin abgesagt hat. Sie würde sich wieder melden. Er ruft an. Die Nummer ist nicht aktiv, sagt eine Tonbandstimme. Ihre Adresse stellt sich als falsch heraus, den Namen gibt es wohl, so gar das Facebook zeigt ihm Listen von Profilen, doch keines passt zu ihr. Sie hat ihm gemeinsam mit der Adresse einen sehr häufigen Nachnamen angegeben. Ob der Vorname ihr richtiger war? Das Traumtagebuch hat sie wohl in der UBahn gefunden, oder im Zug. Oder sonst wo. Auf der Straße eventuell. Wo es ein Taschen dieb vielleicht liegen gelassen oder weggeworfen hat. Oder inspiziert sie auch die Mülltonnen? Den Inhalt – die Träume – hat sie adoptiert. Sie sind zu einem Teil ih res Lebens geworden, zum sprechenden Teil ihrer sprachlosen Jahren, zu Lebenszeichen, zu einem Wider spruch, auf den sie nicht verzichten kann.
Sie hat Vorkehrungen getroffen. Der Doktor sieht sie nicht wieder. Doch er ist zuversichtlich, was sie betrifft.
Sie ist wieder auf den Beinen, sie reagiert. Den letzten Traum hat sie ihm nicht fertig erzählt. So ungefähr muss sich einer dieser Patienten fühlen, die von bestimmten TVSerien abhängig sind, die plötzlich nicht mehr fortge setzt werden. Oder ein Kind, dem eine GuteNachtGe schichte in Episoden erzählt wird, und vor dem Ende bleibt der Erzähler aus.
Nachts plagen ihn nun Albträume. Er träumt Europa auf dem Stier, die den Kontinent, dem sie den Namen gab, nie erreicht hat, ihm aber ihre Kinder und ihre Träu me schickt. Er ist sie, ist in ihrem Kopf, und das Bewusst sein des NieErreichens ist ein unerträgliches Gefühl, ärger als die Gewalt und Horrorszenen aus früheren Träumen. Es bleibt auf seiner Haut haften, wenn er auf wacht, entlässt ihn nie ganz in den Tag. Er findet diese Alpträume immer interessanter, verwendet sogar das Wort schön dafür, nur in Gedanken natürlich, denn die Erinnerung an weit zurückliegende ÄsthetikVorlesungen erlaubt ihm nicht, es so undifferenziert auszusprechen. Der unvereinbare Gegensatz tut ihm gut – ein Wund pflaster, Lebensnähe.
Tagsüber zerbricht er sich den Kopf über die Heilungs mechanismen einer Traumtherapie, in der das Traumma terial nicht von der Patientin selbst, sondern von einer, wenn auch unfreiwilligen, Spenderin kommt.
Barbara Pumhösel (1959), Studium der Romanistik/Eth nologie in Wien, Orléans und Florenz. Lebt, schreibt und übersetzt in Italien (Arnotal) und Niederösterreich. Lang jährige Tätigkeit in der Leseförderung. Mitglied des Litera turkreises PODIUM, der IG AutorInnen, der Compagnia delle poete. Poetry fellow der Bogliasco Foundation von Genua. Prosatexte in Zeitschriften und Anthologien. Ver öffentlichung von Kinderbüchern in italienischer Sprache. Zahlreiche Übersetzungen und Preise, u. a. Anerkennungs preis für Literatur des Landes Niederösterreich 2011 und Premio Pippi 2012.
Veröffentlichungen: Die Distanz der Ufer. Langgedicht. Limbus Verlag, Innsbruck 2019; Ausgewählte Gedichte. Podium Literatur, Podium 102, Wien 2019; In transitu. Arcipelago itaca, Osimo 2016; dammar. Literaturedition Niederösterreich, St. Pölten; Parklücken. Verlag Berger, Horn 2013; gedankenflussabwärts. Erlaufgedichte. Edition Thurnhof, Horn 2009; prugni [Pflaumenbäume]. Iannone Cosmo, Isernia 2008.